BG Kritik: „Ich und du und alle, die wir kennen“

31. Juli 2020, Christian Westhus

Diese ungewöhnliche Tragikomödie verdient mehr Aufmerksamkeit: Ein einsamer Schuhverkäufer und eine Künstlerin, die auf den Durchbruch wartet, begegnen sich. Während sie versuchen, einander kennen zu lernen, probieren sich in parallelen Episoden auch andere Menschen im Kontakt miteinander.

Ich und du und alle, die wir kennen
(Originaltitel: Me and you and everyone we know | USA, UK 2005)
Regie: Miranda July
Darsteller: Miranda July, John Hawkes uvm.
Kinostart Deutschland: 23. Februar 2006

(Diese Kritik erschien im Rahmen der Kritikenreihe Treasure Monday, ursprünglich veröffentlicht im September 2014.)

Das Regiedebüt der Performancekünstlerin und Autorin Miranda July verleiht dem Genre der romantischen Komödie neue Facetten und einen faszinierende soziologischen Einblick, verzerrt durch die idiosynkratrische Art der Regisseurin, Drehbuchautorin und Hauptdarstellerin.

Julys Art, sowohl vor als auch hinter der Kamera, ist ungewöhnlich und zum Teil äußerst speziell. Nicht viele Leute wagen sich in einer doch überwiegend leicht unterhaltsamen romantischen Komödien in Gegenden vor, in die sich July ohne mit der Wimper zu zucken vorwagt. Ein Mädchen, noch ein paar Jahre von der Pubertät entfernt, sammelt schon jetzt Haushaltsgeräte für ihren Hausstand, wenn sie einmal verheiratet sein wird. Zwei Teenager Mädchen sind fasziniert von einem Nachbarn, der möglicherweise ein Pädophiler sein könnte. Um ihre Fähigkeiten zu trainieren, ziehen sie einen Mitschüler zu Rate, der ihre oralen Fähigkeiten beurteilen soll. Und in der doppelbödigen Anonymität eines Chatrooms treffen zwei extrem unterschiedliche und doch vertraute Seelen aufeinander, die durch ein aberwitziges Emoticon ihrer Verbindung Ausdruck verleihen.

July inszeniert diese Episoden wertneutral, wenn überhaupt eher fasziniert und liebevoll als schrullige Alltagsepisoden. Wie das Leben so spielt – und so weiter. Sie selbst spielt Künstlerin Christine, die mit verspielt-abstrakten Multimedia-Konzepten auffallen will. Der Verdacht liegt nahe, dass July hier autobiographisch inspiriert erzählt und die Zeit nutzt, um über den Film hinaus auf sich als Künstlerin aufmerksam zu machen. Die zart aufblühende Beziehung von Christine zum geschiedenen Schuhverkäufer Richard (John Hawkes) steht im Zentrum der Handlung und greift am ehesten klassische „Romcom“ Motive auf, nur um sie dann ganz anders anzugehen.

© Alive AG

Julys verspielte Ideen, ihr Hang zu Farben, zu kleinen, sketchartigen Zwischensequenzen, zu bewusster Künstlichkeit und künstlerischer Attitüde kann schon mal Überhang nehmen, wie im Nachfolgefilm „The Future“ deutlicher zu erkennen. In „Ich und du und alle die wir kennen“ gehen fast alle von Julys Ideen auf. So filmt sie ihre Füße, die in Schuhen stecken. Auf einem steht „me“, auf dem anderen „you“, und so tanzen die Füße aneinander, umeinander, voneinander weg, ohne zu erkennen, dass sie ohnehin zusammen gehören. Auch als Darstellerin überzeugt July und hat zudem ein beachtliches Ensemble zusammengestellt. John Hawkes wurde in den letzten Jahren durch Filme wie „Winter‘s Bone“, „Martha Marcy May Marlene“ und „The Sessions“ berühmt, ist hier als verunsicherter Vater zweier Söhne in gänzlich anderen Gefilden unterwegs. Beide Söhne, der eine ein Teenager, der andere kaum in der Grundschule, sind großartige Figuren und man muss insbesondere Miranda July das Kompliment machen, endlich mal natürliche und unverfälscht authentische Kinderfiguren zu entwickeln.

Wenn man Julys Film überhaupt mit etwas vergleichen kann, dann mit Filmen wie „Ghost World“, Noah Baumbachs „Der Tintenfisch und der Wal“ oder den Filmen von Todd Solondz, nur ohne dessen Ausflüge in die finsteren Ecken von Depression und Perversion. Doch Vergleiche sind keine große Hilfe. In ihrem Filmdebüt etabliert sich Miranda July selbstbewusst und originell als faszinierende und einzigartige neue Stimme, der es medienübergreifend weder an interessanten Beobachtungen, noch an Ideen zur Umsetzung mangelt.

))<>((

Fazit:
Eigenwillige, aber äußerst faszinierende und unterhaltsame romantische Komödie, in der sich Miranda July nicht nur selbst gut ins Licht setzt, sondern auch spannende Beobachtungen anstellt.

8/10

Autor: Christian Westhus

Ein echter Ostwestfale. Gebürtig aus einer kleinen Doppelstadt, die niemand kennt, studierte Literatur in einer Stadt, die es angeblich nicht gibt (Bielefeld). Arbeitet seit 2006 für BereitsGesehen, schreibt Kritiken und Kolumnen, gehört zum Podcast Team und ist einmal im Monat beim KultKino in Lippstadt zu sehen.

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