BG Kritik: „Amer – Die dunkle Seite deiner Träume“

15. Juli 2019, Christian Westhus

Kunstvoll arrangierte Giallo-Hommage mit drei sinnlich-unheimliche Episoden im Leben von Ana, auf dem Weg vom Mädchen zur Frau. Traumartige Visionen von Mord, Gewalt und Sex.

Amer
(Belgien, Frankreich 2009)
Regie: Hélène Cattet, Bruno Forzani
Darsteller: Marie Bos, Charlotte Eugène Guibeaud, Cassandra Forêt
Kinostart Deutschland: 19. Januar 2012

(Dieser Film erschien im Rahmen der Kritikenreihe Treasure Monday, ursprünglich veröffentlicht im August 2014.)

„Style over Substance“ ist so eine Floskel, die sich auch im deutschsprachigen Raum eingebürgert hat, um insbesondere bei Filmen auf mangelhaften Gehalt hinter einer formschönen Oberfläche hinzuweisen. „Amer“ scheint so ein Film zu sein, aber irgendwie auch nicht. „Style over Substance“ oder „Style as Substance“ – das ist hier die Frage.

Das belgische Regie-Duo Hélène Cattet und Bruno Forzani inszeniert „Amer“ (deutsch etwa „bitter“) als hyperintensive Hommage an den italienischen Giallo. Mehr noch als der US-Slasher waren Gialli (mit teils minimalem Budget) bewusst kunstvoll inszenierte Thriller rund um psychosexuelle Mörder, die jungen, sexuell aktiven Frauen an den Kragen wollen. Bevorzugt mit Lederhandschuhen und Rasiermessern. Cattet und Forzani inszenieren „Amer“ zu einem Rausch, zu einem fetischisierten Ritt auf besagter Rasierklinge durch sämtliche Stilblüten, die das italienische Subgenre unter Regisseuren wie Mario Bava oder Dario Argento schuf. Sogar auf Musik von italienischen Größen wie Ennio Morricone und Bruno Nicolai wird zurückgegriffen.

Jedes einzelne Bild ist rasiermesserscharf gerahmt, farblich kodiert oder gänzlich verfremdet. „Amer“ besteht fast ausschließlich aus Nahaufnahmen, aus Detailaufnahmen, die in einem Schnittrausch auch schon mal jegliche Orientierungsversuche wegfegen. Finger, Hände, Hände die sich in hautenge Lederhandschuhe zwängen, Messerklingen, Schlüssellöcher und Augen – immer wieder Augen. Gleichermaßen schlägt der Ton Purzelbäume, reiht unheilvolles Knistern und Knacken an lustvolles Seufzen, Todesröcheln, knatschendes Leder und dem Geräusch einer Metallklinge, die sanft über gestraffte Haut kratzt. Statt sich auch den teilweise absurden und fragwürdigen Handlungen des Giallos hinzugeben, bemühen Cattet und Forzani die Atmosphäre und den sinnlichen Wirkungsgrad des Genres herauf, um ein gänzlich eigenständiges, ganz und gar abstraktes und bewusst stilisiertes Werk zu schaffen. Keine frauenhassenden Mörder, sondern das Unterbewusstsein einer Frau im Zentrum eines Films zwischen Vision und Wirklichkeit.

© Koch Media

Der Plot spielt bei „Amer“ nur die zweite Geige. Es ist eine sinnliche Erfahrung, diesen Film zu schauen. Kino pur, auch wenn manch Farb- und Schnittexperiment am Ende wohl doch nur Show und Spielerei war. Kaum zehn vollständige Sätze werden im gesamten 90minütigen Film gesprochen und die vorhandenen Dialoge dienen nicht unbedingt zur inhaltlichen oder thematischen Erklärung. Mit „Amer“ befinden wir uns im unterbewussten Empfindungszentrum von Ana, wo sich Traum, Wahn und Realität undurchschaubar überlagern. Die erste Episode zeigt Ana als junges Mädchen, wie sie zwischen Angst und kindlicher Neugierde durch ein viel zu großes Haus irrt, vor der geisterhaften Großmutter flüchtet, den tot aufgebahrten Großvater beäugt und ihre Eltern bei etwas entdeckt, das sie nicht versteht, das sie aber auch nicht mehr loslässt. Die erste Episode hat noch etwas vom stilisierten Geisterhaus-Ambiente aus Dario Argentos „Suspiria“, der kein Giallo ist, aber ebenfalls zur einflussreichen Gruppe des kunstvollen Italo-Horrors der 60er, 70er und 80er gehört.

Die zweite Episode ist die kürzeste und auf dem ersten Blick die unwichtigste, leistet jedoch wichtige thematische Vorarbeit. Ana ist eine Jugendliche, eigentlich noch Kind, aber im sexuell ausgereiften Körper einer Frau. Mit diesem Körper entfacht sie nicht nur Konkurrenzdenken bei ihrer Mutter, sondern auch Verwirrung beim männlichen Geschlecht. Die ersten beiden Episoden wirken wie der Prolog zum dritten Abschnitt, der in gewisser Weise der Hauptabschnitt ist. Ana ist nun eine erwachsene Frau, so alt wie ihre Mutter in der vorherigen Episode. Nur noch ein paar Jahre und man könnte sie als „alt“ bezeichnen. Ana kehrt zurück in das lange leer stehende Haus ihrer Kindheit und der Film vollendet seinen nur bedingt narrativen Themenkreis zur sexuellen Entwicklung seiner Hauptfigur, die eng gekoppelt ist mit Tod, Verwesung und Gewalt. Cattet und Forzani lassen zum Abschluss noch einmal die Rasiermesser tanzen, reizen den Fetisch-Spuk aus Leder, geschärften Metall und angeritzter Haut bis an die letzten Grenzen aus. Ob man am Ende von „Amer“ wirklich schlauer ist, kann man hinterfragen, doch auch wenn Cattet und Forzani manchmal mehr versuchen, als sie wirklich leisten können, ist ihr Film eine bemerkenswerte Erfahrung. Ein eigenständiges Konzept gefiltert als Stil-Hommage an ein Genre, das oftmals am Gegenteil dessen interessiert war, was „Amer“ zu sagen versucht.

Fazit:
Einzigartiger Stil-Film, der wenig Plot bietet, dafür unvergessliche Bilder und faszinierende Themenkomplexe. Im extrem erhöhten audiovisuellen Stil des italienischen Giallos macht die Hauptfigur bildlich und wörtlich einschneidende Erfahrungen durch.

Autor: Christian Westhus

Ein echter Ostwestfale. Gebürtig aus einer kleinen Doppelstadt, die niemand kennt, studierte Literatur in einer Stadt, die es angeblich nicht gibt (Bielefeld). Arbeitet seit 2006 für BereitsGesehen, schreibt Kritiken und Kolumnen, gehört zum Podcast Team und ist einmal im Monat beim KultKino in Lippstadt zu sehen.

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