BG Kritik: „Die Taschendiebin“
Der neue Film vom Regisseur von „Oldboy“. Im von Japan besetzten Korea: Die junge Sook-hee lebt in ärmlichen Verhältnissen, bis sie als neues Dienstmädchen von Fräulein Hideko eingestellt wird. Die Frauen entwickeln ein freundschaftliches Verhältnis, doch in Wahrheit ist Sook-hee nur eine Schachfigur im Plan eines Familienfreundes, der sich als Graf ausgibt, um das reiche Fräulein zu ehelichen, bevor sich der angeheiratete und verwitwete Onkel die junge Hideko schnappen kann.
Die Taschendiebin
(Originaltitel: Ah-ga-ssi / 아가씨 | Südkorea 2016)
Regie: Park Chan-wook
Darsteller: Kim Tae-ri, Kim Min-hee, Ha Jung-woo, Cho Jin-woong
(Diese Kritik erschien ursprünglich zum Kinostart des Films im Januar 2017.)
Perversität liegt im Schoße des Betrachters.
Park Chan-wook ist neben Bong Joon-ho (The Host) und Kim Jee-woon (I saw the Devil) der prominenteste Vertreter des neuen südkoreanischen Films. Etwa seit der Jahrtausendwende erreicht eine Vielzahl technisch herausragender, kreativer und ungewöhnlich origineller Filme des Landes auch den „Westen“. Ein Hauptthema der Neuen Südkoreanischen Welle ist dabei Rache und Regisseur Park hat ihr gleich eine ganze Trilogie gewidmet, dessen Mittelteil „Oldboy“ der wahrscheinlich berühmteste koreanische Film überhaupt ist. Die Faszination für gewalttätige Selbstjustiz hat Park bis heute nicht losgelassen und findet sich auch in dieser (freien) Adaption von Sarah Waters Roman „Fingersmith“ („Solange du lügst“), doch Parks eigentliches Interesse ist allgemeiner. Schon die internationalen Titel der anderen beiden Filme der Rache Trilogie geben es vor; „Sympathy for Mister Vengeance“ und „Sympathy for Lady Vengeance“ bitten uns um Verständnis für die blutigen Taten als Widerstand gegen Ungerechtigkeit. In „Stoker“, Parks bisher einzigem Ausflug ins englischsprachige Kino, erzählt er eine Familiengeschichte, in der Mia Wasikowska ihren wahren Charakter erkennt und die mörderisch-psychopathische Natur ihrer Familie annehmen soll. Park will uns Sympathie und Verständnis für abseitige und sogar kriminelle Figuren und Lebensweisen abgewinnen. „Die Taschendiebin“ ist in dem Sinne eine konsequente Weiterführung.
Berühmter noch als Parks Themen ist sein Stil. Einen Park Chan-wook Film erkennt man sofort und nicht selten hört man Vorwürfe, der Stil sei dem Regisseur wichtiger als die zu erzählende Geschichte, was sicherlich nicht immer falsch ist, den Kern des Park’schen Kinos aber verfehlt. „Die Taschendiebin“ ist so gesehen fast eine Provokation, denn es ist Parks bisher größter und visuell außergewöhnlichster Film. Ein in jeglicher Hinsicht hemmungsloses Werk, das nicht unbedingt schrill und artifiziell ist, das seine visuellen Spleens aber selbstbewusst in den Vordergrund drängt. Durch die wunderbar gestalteten Kostüme und die umwerfende Ausstattung führt die extrem agile und doch minutiös durchkomponierte Kamera unter der Leitung Chung Chung-hoon. Das Viktorianische England aus der Romanvorlage macht Park zum von Japan besetzten Korea der 1930er Jahre. Das weitläufige Anwesen von Fräulein Hideko und ihrem Onkel, in dem sich ein Großteil der Handlung abspielt, wird zur multikulturellem Theaterbühne. Japanische Architektur macht sich in einem koreanischen Haus breit und kombiniert britisch-europäischen Stil des vergangenen Jahrhunderts. Dieses Spiel aus kultureller Adaption und Maskerade fließt in die Handlung über, mit Figuren, die sich als Personen einer fremden Nationalität ausgeben, die die eigene Nationalität abfällig bewerten. Sprachen fließen ineinander über, Schriftsysteme prallen aufeinander, Sitten und Regeln überschneiden sich. Dass der Film trotz japanischen Einflusses nahezu ausschließlich koreanisch besetzt ist, passt daher irgendwie ins Bild.
Es ist ein Film über Täuschung, Lüge und Betrug. Doch eine Geschichte über Schwindler und Betrüger ist immer auch eine Geschichte von Geheimnissen, die ständig Gefahr läuft durch Spoiler verraten zu werden. (Der zweite Teil der Kritik deutet ein paar Elemente an, die als Spoiler gewertet werden könnten. Der Film funktioniert sicherlich besser, weiß man so wenig wie möglich über die Handlung.)
Als fingerfertiger Strippenzieher und Meister-Manipulator gibt uns Park das Gefühl, mehr zu wissen als die meisten Figuren. Wir wissen vom eigentlichen Plan, der Sook-hee zum Anwesen von Fräulein Hideko und ihrem Onkel geführt hat. Selbst wenn wir den einen oder anderen doppelten Boden erahnen, denn es ist nun einmal eine Geschichte über Täuschung und Betrug, führt uns Park immer gekonnt in die Nähe einer Vermutung, um uns zu überraschen, dabei aber nicht vollkommen zu überrumpeln. Der unpassende deutsche Titel stiftet beinahe mehr Verwirrung als die sich ständig kreuzenden Handlungsstränge der Handlung, in der Rückblenden und Perspektivwechsel nicht nur Überraschungen sondern auch ein Maximum an Emotionen bereithalten. Die romantische Komponente des Films hervorzuheben könnte schon zu viel gesagt sein, doch es ist unvermeidbar. Romantik, Liebe und Sex sind essentielle Kernelemente des Films, weit mehr noch als Taschendiebstahl. Nicht nur versucht der falsche Graf Fräulein Hideko romantisch für sich zu gewinnen, auch entwickeln Sook-hee und das Fräulein eine innige Vertrautheit, die weit über das übliche Verhältnis von Herrin und Dienstmagd hinausgeht. Doch über allem schwebt der Verdacht der Inszenierung, der Lüge, der Täuschung und des Strippenziehens. Als wollte Park dieses Motiv unmissverständlich im Zuschauer etablieren, kommt in einer zentralen Szene eine lebensgroße Marionette ins Spiel, wenn uns das geheime Hobby des Onkels und seiner männlichen Kollegen der Oberschicht präsentiert wird.
Die reichen Herrschaften erfreuen sich an keck vorgetragenen Klassikern der japanischen und chinesischen Erotika Literatur und begaffen die dazugehörigen Erotikgemälde. Nicht nur hat „Die Taschendiebin“ in diesen wenigen Szenen mehr über Kunst und Kunstfälschung zu sagen als ein „American Hustle“, für Park wird damit auch die Tür zur Erforschung von Sexualität im Tatverdacht der Perversität geöffnet. Das Motiv eines Oktopus verweist nicht nur auf eine berühmt-berüchtigte Szene aus „Oldboy“, sondern auch auf das vielleicht berühmteste Shuga Gemälde überhaupt (Hokusais „Der Traum der Fischersgattin“ – NSFW). Strippenziehen ist ein Ausdruck von Macht und Überlegenheit; übertragen auf romantische Beziehungen und Sexualität entwickelt sich dadurch ein komplexes Bild von sexueller Hierarchie. Pervers ist immer das, was die Mächtigen als pervers erachten. Park, noch nie ein Regisseur, der sich in seiner Bildsprache zurückhält, inszeniert Nackt- und Sex-Szenen im Grenzbereich von Exploitation, Male Gaze, Pornographie und romantisch-entfesselter Leidenschaft. In diesem rauschhaften Reigen aus Betrug, Dominanz und Widerstand geht es dann zentral auch um das Wahrhaftige, um die (Un-?)Möglichkeit von Vertrauen in einem solchen System. So können Instrumente der (sexuellen) Unterdrückung in den richtigen Händen auch zu Symbolen eines solchen Vertrauens werden. Die facettenreiche Handlung, die formvollendete Inszenierung und das großartige Ensemble machen „Die Taschendiebin“ dann auch zu einem Film, der womöglich den bisherigen Höhepunkt im Schaffen eines der originellsten Filmemacher unserer Zeit darstellt.
Fazit:
Rauschhaft, opulent, vielschichtig und im besten Sinne unanständig. „Die Taschendiebin“ ist spezieller, aber auch einzigartiger Kinogenuss.
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