BG Kritik: „Tomboy“

21. August 2020, Christian Westhus

Die Handlung: Die zehnjährige, jungenhafte Laure (Zoé Héran) zieht mit ihren Eltern und ihrer kleinen Schwester in eine neue Wohnung. Als sie auf die Kinder ihrer neuen Nachbarschaft trifft, stellt sie sich als Junge namens Michael vor. Eine Lüge, die eigentlich nicht lange gutgehen kann.

Tomboy
(Frankreich 2011)
Regie: Céline Sciamma
Darsteller: Zoé Héran, Malonn Lévana, Jeanne Disson, Sophie Cattani
Kinostart Deutschland: 03. Mai 2012

(Diese Kritik erschien im Rahmen der Kritikenreihe Treasure Monday, ursprünglich veröffentlicht im März 2015.)

Céline Sciammas erst zweiter Film zeigt anschaulich, warum persönliche Identität und Geschlechtsidentität nicht dasselbe sind.

Für gewöhnlich kennen wir die Grundhandlung eines Films, bevor wir uns hinsetzen und diesen anschauen. Regisseurin Céline Sciamma hält das zum Glück nicht davon ab die Zuschauer und ihren Plot zu Beginn auf die Probe zu stellen. Wir sehen ein Kind von etwa 10 Jahren; etwas schmal und mit einer so gerade nicht mehr windfesten Kurzhaarfrisur. Das Kind trägt T-Shirt und Shorts, sitzt beim Vater auf dem Schoß, um das Auto unter väterlicher Kontrolle ein wenig zu lenken. Wir sehen die quirlige und gut gelaunte kleine Schwester des Kindes, die zum älteren Geschwisterkind aufblickt. Der Name des Kindes ist noch nicht gefallen, als es in den Hof des neuen Wohnblocks tritt, in den die Familie frisch gezogen ist, und sich vor den Kindern der Nachbarschaft nach einem Moment des Zögerns als Michael (oder Mickäel, wie es in den Credits heißt) vorstellt. Und wenn wir es nicht besser wüssten, hätten wir keinen Grund dies anzuzweifeln. Erst als die Geschwister abends ein Bad nehmen und die Mutter „Laure“ ermahnt, endlich aus dem Wasser zu steigen, endet der erste verblüffende Akt von Sciammas wunderbar feinfühligem Film „Tomboy“ mit der offenbarten Wahrheit.

Was folgt hat fast Ansätze eines Krimis. Wie lange kann Laure die Lüge aufrecht halten, wie lange kann sie vor den anderen Kindern Michael spielen, ohne dass ihre Eltern oder Schwester Jeanne davon Wind bekommen? Es ist eine Charade, die zum Scheitern verurteilt ist. Dass Laure sich dieser dennoch aussetzt zeigt, wie ernst ihr Wunsch ist, als Junge wahrgenommen zu werden. Die Gender Kodierungen ihrer Umwelt hat Laure schon verinnerlicht, wenngleich wohl nicht im vollem Bedeutungsspektrum verstanden. Sie lässt ihr Zimmer blau streichen und tauscht das pinke Band ihres Schlüsselbundes gegen ein weißes Band aus. Als Laure dann aber unter Zwang mal in ein Kleid gesteckt wird, ist dieses blau. Sciamma weiß, wie sie unseren Blick zu lenken hat und wie sie die vermeintlich streng zweigeteilte Welt der Geschlechtsnormen aufbricht und zwischen den Polen Mann und Frau neuen Raum entstehen lässt.

© Alamode / Alive AG

Noch braucht es für Laure und ihren Körper nicht viel, um die Illusion „Michael“ glaubwürdig werden zu lassen. Der Film spielt in den letzten Tagen und Wochen der Sommerferien, kurz bevor ein neues Schuljahr beginnt. Mit dem neuen Wohnort und den neuen Freunden ergriff Laure die Chance, sich von der Vorverurteilung als Mädchen zu lösen. Noch kann sie beim Fußball mitspielen, bei dem die Jungs eines Teams oberkörperfrei spielen, um keine Verwechslungen aufkommen zu lassen. Noch fällt Laures unentwickelter, schmächtiger Körper zwischen denen der „echten“ Jungs nicht auf. Sciamma erforscht, was es heißt ein Junge zu sein und hat in Zoé Héran eine bemerkenswerte und ungemein talentierte Jungdarstellerin gefunden. Beim Fußball heißt es mitspielen, statt zuschauen. Ein Junge trägt seine Konflikte durch Raufereien aus. Es wird auf den Boden gespuckt und im Stehen gepinkelt.

Die Kinder der Nachbarschaft im Wohnblock wurden von Sciamma gezielt zu einer passenden Gruppe gebastelt. Dennoch wirkt es authentisch und emotional spannend, nicht zuletzt dank Sciammas leichtfüßiger und warmherziger Regie, die Probleme anspricht und auch vor emotionaler Gewalt nicht zurückschreckt, ohne ihre junge Hauptfigur vorzuführen oder ihre Authentizität zu verlieren. Das betrifft auch Laures Elternhaus und insbesondere Schwester Jeanne, die ganz bewusst das quirlig-lustige und betont mädchenhafte Gegenstück zur grüblerischen Laure bildet. Und Malonn Lévana, die die sechsjährige Jeanne spielt, ist absolut hinreißend, insbesondere wenn sie notgedrungen in die Charade ihrer großen Schwester eingeweiht wird. Die Gruppe der Nachbarschaftskinder besteht überwiegend aus Jungs. Lisa ist die Älteste und hat – von Laure abgesehen – keine gleichgeschlechtlichen Kameradinnen in ihrem Alter in der Nähe. Lisa ist schon ein bisschen weiter als die eigentlich gleichaltrige Laure. Lisa kann nicht mehr verstecken, dass ihr Körper sich auf dem Weg zur Frau befindet. Statt Fußball oder Fangen spielt Lisa lieber „Wahrheit oder Pflicht“ und zeigt bald, sich in Michael verguckt zu haben. Vielleicht hat sich Lisa in Michael verliebt, weil sie instinktiv spürt, dass Laure eine gute Freundin sein könnte. Diese geschlechtsgrenzen überwindende Beziehung zu Lisa ist für Laure ein weiterer Faktor, sich selbst in ihrer eigens geschaffenen Charade zu finden. Dass es zentral darum geht, nicht um das vermeintliche Gesellschaftsproblem, ob Laure nun wirklich ein Junge sein kann, darf und will, macht den Reiz von Sciammas effektiv emotionalen und enorm faszinierenden Films aus.

Fazit:
Faszinierender, gefühlsbetonter und wunderbar natürlich inszenierter Film zur Geschlechts- und Identitätsfindung einer Zehnjährigen. Spannend, anschaulich und toll gespielt.

9/10

Autor: Christian Westhus

Ein echter Ostwestfale. Gebürtig aus einer kleinen Doppelstadt, die niemand kennt, studierte Literatur in einer Stadt, die es angeblich nicht gibt (Bielefeld). Arbeitet seit 2006 für BereitsGesehen, schreibt Kritiken und Kolumnen, gehört zum Podcast Team und ist einmal im Monat beim KultKino in Lippstadt zu sehen.

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