BG Kritik: „Tokyo Godfathers“

10. August 2019, Christian Westhus

Anime vom „Paprika“ Regisseur: Am Weihnachtsabend finden drei Obdachlose einen ausgesetzten Säugling. Statt das neugeborene Mädchen bei der Polizei abzugeben, wollen sie die Eltern finden und diese zur Rede stellen. Leichter gesagt als getan.

Tokyo Godfathers
(Originaltitel: Tōkyō goddofāzāzu (東京ゴッドファーザーズ) | Japan 2003)
Regie: Satoshi Kon
J-Sprecher: Aya Okamoto, Yoshiaki Umegaki, Tôru Emori
D-Sprecher: Caroline Combrinck, Kai Taschner, Walter von Hauff

(Diese Kritik erschien im Rahmen der Kritikenreihe Treasure Monday, ursprünglich veröffentlicht im November 2014.)

Der dritte von insgesamt nur vier Spielfilmen des japanischen Animationsregisseurs Satoshi Kon ist ein Weihnachtsfilm. Etwas, das man in Japan selten und im Anime noch viel seltener findet.

Es weihnachtet sehr im bitterkalten Tokio und obwohl das Obdachlosentrio, welches wir im Folgenden begleiten werden, nichts mit Christus und Erlösung am Hut hat, harren sie der Kälte, um beim Essensausschank eine warme Mahlzeit zu erhalten. Sie ahnen nicht, dass sie kurz darauf nicht nur sich, sondern auch den Säugling ernähren müssen, den sie beim gewohnheitsmäßigen Suchen im Müll finden. Sie taufen das Mädchen Kyoko, was übersetzt etwa „Das reine Kind“ heißt. Das ist natürlich kein Zufall, denn es wimmelt vor derartigen Verweise oder Analogien auf Christi Geburt.

Die heiligen drei Könige, die drei Obdachlosen, das sind die jugendliche Ausreißerin Miyuki, Transvestit Hana und Trinker Gin. Sie haben selbst ihre verborgene Vergangenheit zum Thema Familie, haben eigene schmerzende Erfahrungen mit Eltern und/oder Kindern gemacht, die durch das gefundene Kind neu hervorbrechen. Hana ist es, der zunächst unbedingt Mutter für die kleine Kyoko sein will und schließlich beschließt, sich die Eltern vorzuknöpfen. Mit Hinweisen, die in einem Schließfach gefunden werden, forschen die drei ungewöhnlichen Helden nach, geraten dabei aneinander, auseinander, in einen Mafia Krieg und lernen die turbulente Entwicklung des Elternpaares kennen. Hinter jedem Schicksal steckt eine Geschichte.

© Madhouse

Für Kon, der in seinen übrigen Filmen ganz besonders an mentalen Grenzüberschreitungen, Träumen und Meta-Welten interessiert war, ist „Tokyo Godfathers“ der wohl normalste Film seiner viel zu kurzen Karriere. Kons visueller Stil entfernt sich vom verbreiteten Anime Charakterdesign. Seine Figuren, wie auch seine Schauplätze, sind blasser, dreckiger, realistischer, egal was für eine Grenzen sprengende Odyssee er ihnen zumutet. Die Odyssee der drei unwissend weisen „Könige“ nimmt zunehmend verrücktere Gestalt an. „Tokyo Godfathers“ ist kein Film für Leute, die ein Problem mit unwahrscheinlichen Zufällen haben, denn davon gibt es reichlich. Mit zunehmender Laufzeit wird klar, dass dieser Film trotz seines bodenständig-realistischen Grundkonzepts und seiner ungewöhnlichen Helden tatsächlich ein Weihnachtsmärchen ist. Hana nennt die kleine Kyoko schon früh ein Geschenk Gottes und legitimiert damit jeden Zufall, jeden Umstand und jede unerwartete Wendung, die ihnen auf ihrer Suche begegnet.

Bald schon wissen wir, dass hier fast alles passieren kann und auch, wenn „Tokyo Godfathers“ keine übersinnlichen Verrenkungen anstellt, wie die übrigen Spielfilme Kons, ist die Möglichkeit dazu immer gegeben. Kon inszeniert und schneidet mit einem enormen Tempo und mutet seinem Publikum einige Emotionssprünge zu. Diese funktionieren, weil Kon jederzeit weiß, was er macht. Hier geben sich unterhaltsame Kurz-Action, derber Humor und bittere Tragik innerhalb weniger Szenen die Klinke in die Hand. Wie sich die drei Helden in diesem Chaos überhaupt immer wiederfinden, wie regelmäßig Figuren ein zweites Mal auftreten oder alte Bekannte wieder auftauchen, wie im einen Moment noch ein Obdachloser von zerstörungswütigen Jugendlichen verprügelt, ehe im nächsten Moment Slapstick mit der kleinen Kyoko veranstaltet wird, ist ein schwieriges Unterfangen. In den Händen von Satoshi Kon macht diese so unterhaltsame wie emotionale Mischung den Unterschied und macht „Tokyo Godfathers“ zu einem mehr als sehenswerten Film. So sehenswert, dass beim Abspann, unterlegt mit einer wunderbar kurios auf Japanisch gesungenen Variante von „Ode an die Freude“, ganz Tokio anfängt zu tanzen.

Fazit:
Wie kaum ein anderer Regisseur verbindet Satoshi Kon Tragik, Humor und Unterhaltung zu einem wunderbaren Weihnachtsmärchen, das trotz seines magischen Charakters ein realistisches Porträt von Personen, Emotionen und einer Stadt abgibt.

Autor: Christian Westhus

Ein echter Ostwestfale. Gebürtig aus einer kleinen Doppelstadt, die niemand kennt, studierte Literatur in einer Stadt, die es angeblich nicht gibt (Bielefeld). Arbeitet seit 2006 für BereitsGesehen, schreibt Kritiken und Kolumnen, gehört zum Podcast Team und ist einmal im Monat beim KultKino in Lippstadt zu sehen.

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