BG Noirvember Kritik: „Die Spur des Fremden“ alias „The Stranger“ (1946)

18. November 2020, Christian Westhus

Der Noirvember wird schwarz. Über den November verteilt stellen wir euch einige der besten und spannendsten Werke des Film Noir vor. Die Schwarze Serie Hollywoods: Schnüffler, Mörder und Betrüger, Femmes Fatales, dunkle Schatten und Zigarettenqualm. Heute kommt der große, aber auch oft vom Pech verfolgte Orson Welles mit einem Post-War Noir daher. „Die Spur des Fremden“ von 1946.

Die Spur des Fremden
(Originaltitel: The Stranger | USA 1946)
Regie: Orson Welles
Darsteller: Edward G. Robinson, Loretta Young, Orson Welles
Kinostart Deutschland: 03. Februar 1977

Wenn Subtext Text wird. Die Idee einer faschistischen und/oder nationalsozialistischen Unterwanderung aus dem In- und Ausland hatte zu Kriegszeiten schon so manchen Film Noir beeinflusst. Mal geschieht dies bewusst, mal bietet sich eine derartige Interpretation einfach an, ohne zweifelsfrei belegbar zu sein. Schmierige Drahtzieher im Halbschatten, finsterer Machtmissbrauch, kaltblütiger Mord und die oft namenlosen Opfer dazwischen. Unmittelbar nach Kriegsende legten amerikanische Kriminalfilme so manche Zurückhaltung ab und kamen angesichts der real aufgedeckten Gräuel unmissverständlich zum Punkt, ehe mit den 1950ern am Horizont langsam aber sicher die Angst vor der kommunistischen Unterwanderung das amerikanische Genrekino prägte. Orson Welles‘ „Die Spur des Fremden“ geht ähnliche Wege wie Hitchcocks „Berüchtigt“ (1946). Geflohene Nazis haben sich getarnt in den USA niedergelassen, um der internationalen Strafverfolgung zu entgehen oder um auf andere Weise kriminell zu agieren.

Die Handlung: Der Zweite Weltkrieg ist gerade vorbei. Wilson (Edward G. Robinson) arbeitet bei der Alliierten Kriegsverbrecherkommission und fahndet nach geflohenen und verdeckt lebenden Nazis. Ganz oben auf der Fahndungsliste steht Franz Kindler (Welles), ein zentraler Konzeptleiter bei der Entwicklung von Vernichtungslagern. Um Kindler aufzuspüren und aus der Reserve zu locken, entlässt Wilson einen Mann namens Meinike aus dem Gefängnis, ein einstiger Vertrauter Kindlers und der einzige, der dessen Gesicht und Aufenthaltsort kennt. Bei der Verfolgung Meinikes führt es Wilson schließlich in die Kleinstadt Harper, Connecticut. Hier hat sich Kindler als Charles Rankin niedergelassen, ist ein äußerst beliebter Geschichtsprofessor und mit Mary Longstreet (Loretta Young) verheiratet, der Tochter des hochangesehenen Richters.

MGM

Orson Welles, das große Genie, dessen revolutionärer „Citizen Kane“ (1941) gerade einmal fünf Jahre alt war, hatte bekanntlich so seine Probleme mit Studios, Produzenten und Geldgebern. Welles war per Selbstdefinition ein Künstler, ein echter Filmemacher, wurde nicht selten aber auch als exzentrischer Egomane bezeichnet. Nach einigen Rückschlägen war „The Stranger“ (Originaltitel) ein Kompromiss, ein Versuch, sich und den Studios zu beweisen, dass er auch zeit-, budget- und publikumsorientiert liefern kann. Und ja, „Spur des Fremden“ ist ein augenscheinlich gewöhnlicher Film, straight, ohne auffällige Schnörkel, ohne die erzählerische Extravaganz von „Citizen Kane“ und ohne die stilistische Verspieltheit von „Im Zeichen des Bösen“ (1958) oder „Der Prozeß“ (1962). Dennoch wird gerade die schnörkellos funktionelle Erzählweise zum Erfolgsgaranten.

Denn selbst ein gemäßigter Orson Welles inszeniert noch immer anders und ausdrucksstärker als ein Großteil der zeitgenössischen Konkurrenz. Mit einer starken Besetzung, angeführt vom immer sympathischen Edward G. Robinson, geht der vermeintliche Kompromiss auf. Es ist „Noir“ als Polit-Thriller, als ideologisches Duell und als Kampf um Rechtmäßigkeit. Es ist eine Geschichte von falschen Identitäten, gesellschaftlichen Masken, von Täuschen und Tarnen. Darunter fällt auch Loretta Youngs Rolle, der man zwar noch mehr Spielraum wünscht, die in ihrer langsamen „Oops, mein Ehemann ist ein Nazi“ Realisation aber so manch spannende Wendung durchmacht. Und das ist „Die Spur des Fremden“ am Ende trotz politischen Untertönen und Noir-Anleihen: ein spannendes Katz-und-Maus-Spiel, von einem großen Könner routiniert umgesetzt.

7/10

Auf DVD erhältlich. Als Film der Public Domain im Internet Archive verfügbar.

Autor: Christian Westhus

Ein echter Ostwestfale. Gebürtig aus einer kleinen Doppelstadt, die niemand kennt, studierte Literatur in einer Stadt, die es angeblich nicht gibt (Bielefeld). Arbeitet seit 2006 für BereitsGesehen, schreibt Kritiken und Kolumnen, gehört zum Podcast Team und ist einmal im Monat beim KultKino in Lippstadt zu sehen.

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