BG Kritik: „Ad Astra – Zu den Sternen“
Die nahe Zukunft. Vor einigen Jahren machte sich Roys Vater (Tommy Lee Jones) auf zur ersten bemannten Reise zum Neptun, an den Rand des Sonnensystems. Die Mission galt lange als verloren, doch als zerstörerische Energiewellen durchs Sonnensystem ziehen, vermutet man den Ursprung am Neptun. Roy (Brad Pitt) soll seinen totgeglaubten Vater kontaktieren und davon abhalten, weiter mit gefährlicher Materie zu experimentieren.
Ad Astra – Zu den Sternen
(Originaltitel: Ad Astra | USA, China, Brasilien 2019)
Regie: James Gray
Darsteller: Brad Pitt, Tommy Lee Jones
Kinostart Deutschland: 19. September 2019
„Eine Zeit der Konflikte und Hoffnung“ heißt es in einer Texteinblendung, die James Grays Film „Ad Astra“ vorausgeht. Es ist eine Beschreibung, die alles bedeuten kann, die also auch für unser Hier und Jetzt stehen kann. Im Film befinden wir uns in der „Nahen Zukunft“, wie es heißt. Es könnte das ausgehende 21. oder frühe 22. Jahrhundert sein. Aber wirklich wichtig sind konkrete Jahreszahlen nicht. In dieser Welt hat die Erforschung des Weltalls wieder an Einfluss und Wichtigkeit gewonnen. Der Mond ist besiedelt, ist auch für die zivile Bevölkerung zugänglich, nur einen marginal aufwändigeren Flug entfernt, dafür mit Subway und DHL ausgestattet. Der Mars ist eine wissenschaftliche Kolonie und das schon lange genug, dass Kinder, die dort geboren wurden, erwachsen sind. Vor ein paar Jahrzehnten wurden erste Missionen zum Jupiter, zum Saturn und sogar bis zum Neptun gestartet, bei denen H. Clifford McBride (Tommy Lee Jones) einer der herausragenden Pioniere war. Und auf der Erde ragt eine gewaltige Space Antenna bis über die Stratosphäre hinaus in die Höhe, nicht zuletzt um den Funkkontakt im Sonnensystem zu gewährleisten. An dieser Antenne arbeitet McBride Junior, Roy (Brad Pitt).
In den zahlreichen Gesprächen mit einem Computer zur psychologischen Evaluation, sowie in den Voice Over Kommentaren, die wie aus einem Terrence Malick Film immer wieder hereinschwappen, beschreibt sich Roy McBride als fokussiert, motiviert und vollkommen ruhig. Selbst in Stresssituationen geht sein Puls nicht nennenswert über 80. Er kann alles Unwesentliche ausblenden, darunter seine Frau Liv Tyler, deren Rolle größtenteils nur Symbolcharakter erfüllt, was auch die Kamera in einer frühen Szenen mit effektiver Tiefenunschärfe bestätigt. Roy ist in sich gekehrt, kein sozialer Mensch. Er braucht und sucht die Einsamkeit seiner Arbeit, ob auf einer Flugmission im All oder alleine kilometerweit über der Erdoberfläche bei Außenarbeiten an der Antenne.
Als er erfährt, dass sein totgeglaubter Vater, dessen damalige Neptun-Mission als verloren galt, noch am Leben sein und für die zerstörerischen Energiewellen im Sonnensystem verantwortlich sein könnte, verändert sich Roys Sicht auf sich selbst. Er hatte mit dem Verlust des Vaters abgeschlossen. H. Clifford McBride ist eine Raumfahrtlegende mit übergroßem Schatten, doch als Sohn hatte Roy einen Haken hinter die Abwesenheit des Mannes gemacht, der lieber zu den Sternen aufbrach, als sich um seine irdische Familie zu kümmern. Durch diese unerwartete Möglichkeit drängen sich Roy doch wieder Fragen auf. Und er bemerkt, dass er seinem alten Herrn gar nicht so unähnlich ist. Auch Roy begibt sich fast komplett ohne Zögern auf eine Reise, die ihn Stufe und Stufe weiter weg von der Erde bringt, die ihn mehr und mehr allein werden lässt; von der Erde auf den bevölkerten Mond, über eine kleine Raumfähre zum spärlich bewohnten Mars und dann irgendwie hin zur endlosen Einsamkeit am Rande der Heliosphäre, wo sich Roys Vater, sein letztes Familienmitglied, befinden könnte.
Als „Heart of Darkness“ bzw. als „Apocalypse Now“ im Weltraum wurde „Ad Astra“ im Vorfeld besprochen. Und die Ähnlichkeiten sind unübersehbar. Da kein Funkkontakt zu McBride Senior besteht, die Antimaterie-Energiewellen aber vom Neptun zu kommen scheinen, geht man bei der Weltraumbehörde davon aus, dass Clifford McBride zu einem Colonel Kurtz geworden ist, wahnsinnig geworden in der Isolation einer fremden Welt und mit einem zerstörerischen Willen ausgestattet. Roy McBride ist der Captain Willard bzw. Marlow, der sich auf eine lange Reise begibt, an dessen Stationen er weitere Eindrücke sammelt. Regisseur James Gray, der das Drehbuch zusammen mit Ethan Gross schrieb, gibt sich spürbar dem „Fiction“ Aspekt von Science-Fiction hin und doch wirkt jeder Schritt, wirkt jedes Detail clever, fundiert und irgendwie doch realistisch. Je nach Akt, Episode und Passage erinnert „Ad Astra“ an jeden halbwegs realistischen Weltraumfilm der letzten Jahre. Eine frühe Unfallsituation ähnelt „Gravity“, nicht nur der Mars hat vage Elemente aus „Der Marsianer“ und die Hauptfigur, mit ihrem Drang nach Einsamkeit und emotionaler Abgeschiedenheit, hat mehr als nur eine Nuance mit „First Man“ gemein. „Ad Astra“ kombiniert diese Eindrücke zu einem sensationellen Ganzen; mal aufregend, mal spannend, mal unterhaltsam, aber letztendlich doch immer nach innen gerichtet, auf das Innenleben seiner Hauptfigur. „Ad Astra“ ist ein Film, dessen vermeintliche Absurdität mancher Szenen nur die Faszination und die Möglichkeiten „zeitnaher“ Science-Fiction unterstreicht. Denn was sonst würde die Menschheit aus einem bewohnten Mond machen, wenn nicht eine Art low-gravity Stadt nach Wild West Art?
„Ad Astra“ ist der bisher größte Film für Regisseur James Gray. Koproduziert von Brad Pitts Firma „Plan B“ ist es ein letztes Relikt von 20th Century Fox und damit nun ein Disney Film. Es ist ein Werk, welches zuweilen phänomenal aussieht, das trotz erwähnter anderer Weltraumfilme immer wieder neue Faszination für die Welt „da draußen“ schüren kann, nicht zuletzt dank starker Effekte, einer cleveren Ausstattung und mit epischer Musik von Max Richter (und als Gast Nils Frahm). Doch trotz Blockbusterbudget fühlt sich Gray nicht verpflichtet, einen Blockbuster zu inszenieren. „Ad Astra“ ist ein James Gray Film, ein Film über Menschen, seinem „Die versunkene Stadt Z“ in einigen Details mehr als nur ähnlich. Brad Pitt ist nicht nur exzellent gecastet, sondern auch ausgesprochen gut darin, die zunehmend größer werdende emotionale Unruhe in Roy McBride zu kommunizieren. Den spannenden Widerspruch, sich so weit weg von der irdischen Heimat zu bewegen wie noch niemand zuvor, dabei aber seiner familiären und persönlichen Heimat näher zu kommen, macht insbesondere auch Pitt zu einem endlos faszinierenden Widerspruch. McBride Senior wollte am Rande der Heliosphäre ins Weltall horchen, vom Atmosphärendunst der Sonne befreit nach außerirdischem Leben suchen. In ein, zwei Momenten erinnert uns das Script daran, bei einem Gebet zum Raketenstart zum Beispiel oder bei einer Beerdigung, dass auch die kühnsten „wissenschaftlichen“ Vorhaben immer eine religiöse Note haben. Und auch wenn James Gray sein Finale leicht überstürzt, findet er grandiose Bilder – wunderschön und thematisch gewaltig – um die Facetten seiner Geschichte zu bündeln und zu einem reizvollen Ende zu führen: Der Kosmos, die unendliche Leere, der Vater und das Selbst.
Fazit:
Science-Fiction im (aller-)besten Sinne: mit mindestens einem Bein in unserer technologischen Gegenwart verankert, mit gleichermaßen prächtigen wie cleveren Zukunftsideen ausgestattet, edel gestaltet und selbstbewusst inszeniert, aber im Kern zutiefst menschlich und persönlich. Stark.
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