BG Kritik: „Der Vorleser“

12. September 2017, Christian Mester

Michael ist 15, als er im Jahr 1958 die ältere Schaffnerin Hanna (Kate Winslet) kennenlernt, die ihn nach einem Vorwand zuhaus verführt und daraufhin eine Affäre mit ihm beginnt.Jahre später sieht er sie dann als Jurastudent in einem Gerichtsprozess wieder, in der sie eines schrecklichen Verbrechens beschuldigt wird…

The Reader (2009)
Regie: Steven Daldry
Darsteller: Kate Winslet, David Kross

Kritik:
Graphische Erotik, erschreckende Nazi-Vergangenheiten und eine tragische Lovestory + Winslet & Fiennes – eigentlich alles Zutaten für einen guten Film, wenn da das Wort „eigentlich“ mal nicht wäre.

Als bekannt gegeben wurde, dass man Bernhard Schlinks Roman Der Vorleser verfilmen wollte, da konnte man das sonore Schnarchen der versammelten Zuhörer eigentlich als Symphonie aufnehmen; spätestens seit der Besetzung von Kate Winslet in der weiblichen Hauptrolle war aber kurzweilig Hoffnung am Himmel.

Wie Miss Winslet schließlich bahnbrechend immer wieder unter Beweis stellt, verleiht sie fast allen ihrer Filme Anmut, Zerbrechlichkeit, Schönheit und Niveau, was auch bei ihrem neuen Drama wieder vollkommen zutrifft. Wäre es jemand anders, würde man die viele Nacktheit im Film sicher als gewagt auslegen, aber da Kate das nun schon seit Jahren mit Leichtigkeit in ihren Projekten macht, braucht man ihren Mut diesbezüglich wohl nicht mehr zu erwähnen. Das schmälert allerdings keineswegs die Achtung, die man vor ihr als Darstellerin haben kann, denn gerade die unverhüllten Szenen in der ersten Hälfte gehören mit zu den stärksten des Films.

Winslet spielt die Figur der Hanna als etwas naiv, dumm und simpel, allerdings gleichzeitig als authoritär und wankelmütig, mit einem nervösen Hang zur Kontrolle. Sie ist zum einen eiskalt und bestimmend, zum anderen aber im Grunde eine Frau, die dringend Liebe bedarf und mit ihrer Vergangenheit nicht abschließen kann. Dabei vergreift sie sich mehr oder weniger an einem jungen Mann, der von Deutschlands Krabat-Star (?) David Kross gespielt wird und glänzt insgesamt als schwierige Figur. Kross dagegen braucht nicht viel zu machen, ist er doch anfangs mehr oder weniger nur der passiv Verführte, bis es dann nach einem Zeitsprung in den zweiten großen Abschnitt des Films geht.

War der erste Abschnitt eine ungleiche Liebesgeschichte zwischen einer leicht verstörten älteren Frau und einem Jungen mit Grünkohl hinter den Ohren, wandelt sich der zweite dann zu einem ernsten Nazi-Drama, in dem jedoch bis auf Winslet alles wie ein Kartenhaus zusammenfällt.

Es beginnt ein elendig langer Gerichtsprozess, in dem Hanna eines Verbrechens aus ihrer Vergangenheit beschuldigt wird, was wiederum in Michaels neuem Umkreis zu möchtegern-bedeutungsschwangeren Grundsatzdiskussionen (mit dabei: Hitler) und richtig schwachem Schauspiel von David Kross führt, dem es offensichtlich gedanklich mehr zu den damals noch zu filmenden Sexszenen, als zu seiner momentanen Rolle hinzog. Nichtssagend und wortkarg stammelt er sich nämlich durch eigentlich prägnante Momente, die andere Schauspieler mit einem 9er Eisen in Hole-in-Ones verwandelt hätten.

Gegen Ende hin will die Story dann noch mit einem großen Twist punkten, doch der ist etwa so vorhersehbar und überraschend wie das Ende von Phantom Commando, nur mit weniger Toten und weniger Unterhaltung. Zudem die nachfolgende Szene und dessen ganze Konsequenz äußerst fragwürdig ausfällt. Ralph Fiennes taucht dann 20 Jahre später noch als älterer Michael auf und versucht was zu machen, kriegt das in Hinblick auf die schwache Story aber nicht mehr wirklich hin. Regie und Score sind auch darüber hinaus nichts weltbewegendes, und sofern nicht zufällig Kate Winslet im Bild ist, finden sich auch nicht wirklich viele gute Bilder.

Winslet ist klasse, ist aber im großen und ganzen das einzige am Vorleser, das ihn so gerade im Mittelmaß hält. Die gelungene Einleitung führt nirgendwo hin, und der zweite Abschnitt ist eine gleichgültige Katastrophe, die vorhersehbar ist und durch das fehlende Schauspieltalent auf Seiten Kross‘ viel zu kross frittiert wird. Verglichen mit Filmen wie Die Reifeprüfung und Lolita steht Der Vorleser in Sachen Beziehung zwischen jungen Leuten und Erwachsenen weit hinten an, und auch als NS-Drama hat man längst weitaus besseres gesehen.

Die Produzenten werden sich bestes erhofft haben – eine legendäre Beziehung, die auch noch nach Jahren fesselt, schockierende Enthüllungen mit Nazi-Verbrechen, ein grausamer Supertwist und ein verwegenes Ende, doch im Film kommt all das leider nicht mit der geballten Kraft herüber, die es haben sollte.

Fazit:
Kate ist sehenswert, aber das war sie auch schon in besseren Filmen. Ein gerade noch mittelprächtiges Drama, das sich nach einer guten Einleitung nicht mehr retten kann.

5 / 10

Autor: Christian Mester

Dieser Filmenthusiast (*1982) liebt es, manchmal auch mit Blödsinn, Leute für Filme zu begeistern. Hat BG im Jahr 2004 gegründet und ist dann für Pressevorstellungen, Interviews und Premieren viel rumgereist, hat als Redakteur u.a. für GameStar geschrieben, war dann mal Projektleiter in einer Werbeagentur mit Schwerpunkt dt, Kinostarts und - schaut gerad vermutlich schon wieder was.

Um an dieser Diskussion teilzunehmen, registriere dich bitte im Forum:
Zur Registrierung