BG Kritik: „Komm und sieh“ (Im Kino und bald auf BD)
Ursprünglich 1985 erschienen, fristete dieses sowjetische Anti-Kriegs-Meisterwerk lange ein Schattendasein. Nun kommt der oftmals als letzte große Meisterwerk des Sowjetkinos bezeichnete Film noch einmal ins Kino und erscheint in Kürze endlich auf Blu-ray.
Komm und sieh
(Originaltitel: Idi i smotri (Иди́ и смотри́) | Sowjetunion 1985)
Regie: Elem Klimow
Darsteller: Alexei Krawtschenko, Olga Mironowa, u.a.
Seit dem 22. Oktober erhält Elem Klimows legendäres Anti-Kriegs-Meisterwerk „Komm und sieh“ eine Wiederaufführung in ausgewählten Kinos, ehe Ende November via Bildstörung (zur Homepage inkl. Auflistung der ausgewählten Kinos) die aufwändige deutsche Blu-ray erscheint. Auch wenn die betreffenden Kinos bundesweit nicht übermäßig zahlreich sind: dies ist ein beachtliches Ereignis. Zu lange fristete der Film ein Schattendasein, nicht zuletzt aufgrund (qualitativ) eingeschränkter Verfügbarkeit. Ein Dasein, welches in Deutschland nun mehr oder weniger vorbei sein dürfte. Doch die Frage muss erlaubt sein: wer möchte sich – gerade aktuell – in diese filmische Hölle begeben? Dabei weckt der Titel ja eigentlich Neugierde, lädt ein, näher zu kommen und zu sehen, was es mit diesem fast ausnahmslos gefeierten Film auf sich hat. Man ahnt, was einem hier tatsächlich blüht, wird man sich der eigentlichen Bedeutung des Titels bewusst: es ist die Bibel, genauer die Offenbarung des Johannes. Das zu Betrachtende sind das Chaos und Elend der Apokalypse.
Seit Ewigkeiten wird über das Für und Wider von Kriegs- und Antikriegsfilmen diskutiert. Nicht Wenige (z.B. Filmregisseur Francois Truffaut) sind der Meinung, es könne keinen wirklichen Antikriegsfilm geben, sei ein kriegerischer Konflikt doch immer auch ein stückweit aufregend und damit unterhaltend. „Komm und sieh“ könnte die eine große Ausnahme von der Regel sein. Oder, um es mit den Worten von Roger Ebert zu sagen: „Niemand würde bei ‚Komm und sieh‘ diesen Fehler begehen“, den Status als Antikriegsfilm in Frage zu stellen. Selbst Regisseur Elem Klimow war nach diesem Film ausgelaugt und am Ende seines Schaffens, verkündete das Karriereende mit der Erklärung, er habe nicht zuletzt mit und in diesem Film alles geschafft, geleistet und erzählt, was er mit seiner Filmkunst bezwecken wollte oder konnte.
Es ist 1943; Weißrussland ist seit drei Jahren vom Deutschen Reich besetzt. Der junge Fljora schließt sich voll jugendlicher Naivität und Abenteuerlust den örtlichen Partisanen an, um gegen Hitlers Soldaten zu kämpfen. Doch für die Männer ist Fljora nur Lauf- und Dienstbote, wird beim Weiterziehen zurückgelassen. Enttäuscht und frustriert irrt der Junge durch den Wald und befindet sich schon längst in seinem Martyrium, auf dessen Weg er u.a. das junge Mädchen Glasha trifft und in sein Heimatdorf zurückkehrt.
Der Titel verweist auf die Bibel und doch wäre Dante Alighieri mindestens ebenso angebracht. Fljora durchschreitet fortan sämtliche Höllenzirkel, beobachtet und erfährt unvorstellbares Leid. Musikalisch unerbittlich begleitet von – natürlich – Mozarts Requiem und Originalmusik von Oleg Jantschenko, inszeniert Regisseur Klimow nicht bloß billige Schockeffekte und Abscheu, sondern lässt den Zuschauer ganz tief in diese einst jugendlich unschuldigen Perspektivfigur eindringen, um mitzuerleben statt nur zu beobachten. Die komplexe Montage umgeht jegliche Art der Sensationslust oder Sentimentalisierung, abstrahiert Fljoras Sinneswahrnehmungen zu filmischen Nadelstichen, die Narben hinterlassen. Das zentrale Stilmittel des Films sind Nahaufnahmen von Gesichtern, die seit Carl Theodor Dreyers „Passion der Jungfrau von Orleans“ (1928) nicht mehr so gespenstisch intensiv wirkten. Fljora sieht die Schrecken des Krieges und wir sehen, wie sich diese in seinem Gesicht verfestigen, ihn verändern, entstellen und verwandeln.
Basierend auf der Romanvorlage von Ales Adamowitsch, der auch das Filmdrehbuch mitschrieb, griff Regisseur Klimow auf eigene Erfahrungen zurück. Als Kind floh er aus dem umkämpften und brennenden Stalingrad. Nach eigener Aussage konnte Klimow in „Komm und Sieh“ nicht all das verwenden und zeigen, was er damals erlebt hatte. Denn einen solchen Film könne auch er nicht ertragen. „Komm und sieh“ ist nicht einfach ‚nur‘ ein Kriegsfilm, kein bloßer Holocaustfilm. Es ist ein irrealer und doch schier unerträglicher Abstieg in die Hölle, eine Demonstration von Grauen und Barbarei. Suchte beispielsweise „Schindlers Liste“ nach der letzten kleinen Flamme der Hoffnung und Menschlichkeit inmitten des ultimativen menschlichen Versagens, ist dies die menschliche Apokalypse. Lasset alle Hoffnung fahren, ihr, die ihr hier eintretet, wie es bei Dante heißt.
Nicht unähnlich Passolinis berüchtigtem „Salo oder die 120 Tage von Sodom“ ist auch „Komm und sieh“ ein schwer verdauliches und unvergessliches Stück Film. Komm, sieh und vergesse nie. Es ist schwer vorstellbar, sich diesen Film regelmäßig oder überhaupt ein weiteres Mal anzuschauen und doch sollte man der Aufforderung des Titels Folge leisten. Vielleicht sind diese unruhigen Tage rund um Corona, verschwurbelter Antidemokraten und einer folgenschweren US-Wahl irgendwie doch gerade richtig, um an der grausigen Odyssee des jungen Fljora teilzunehmen. Elem Klimows Werk ist zu wichtig, zu intensiv und zu einzigartig, um auf einen bloßen Warn- und Schockeffekt reduziert zu werden. Doch im regelmäßig verwässerten Genre des Kriegsfilms, zu häufig in die falsche Richtung verdreht und manipulierend, ragt „Komm und sieh“ wie ein gewaltiges Monument heraus. Ein Monument, welches nun endlich auch das deutsche Publikum erfahren kann.
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