BG Kritik: „Citizen Kane“ (Classics Kritik)

3. Dezember 2020, Christian Westhus

Mit der Aussicht auf David Finchers „Mank“, der unmittelbar vor seiner Premiere bei Netflix steht, lohnt sich ein Blick auf den Film, der dort von entscheidender Bedeutung sein wird: „Citizen Kane“. Orson Welles‘ einflussreiches, gefeiertes, oftmals als bester Film aller Zeiten bezeichnetes Meisterwerk über Leben und Mysterium eines erfolgreichen Zeitungsmagnaten. Kann man dem Klassiker auch heute noch etwas abgewinnen?

© Warner Bros.

Citizen Kane
(USA 1941)
Regie: Orson Welles
Darsteller: Orson Welles, Joseph Cotten, Dorothy Comingore, u.a.
Kinostart Deutschland: 29. Juni 1962

Der beste Film aller Zeiten. Zumindest wird „Citizen Kane“ von nicht wenigen Personen und Institutionen regelmäßig als solcher bezeichnet, sei es das Amerikanische Filminstitut (AFI) oder das hochangesehene britische Filmmagazin Sight & Sound. Warum ist das eigentlich so? Zur Beantwortung dieser Frage gehört eigentlich mehr als nur die vermeintliche Qualität des Films oder der historische Wirkungs- und Einflusskreis. Die Idee einer Rangliste von Kunst und das Vorhaben eines Kunst-Kanons sind naturgemäß fehlerhaft, egal wie viel Spaß es theoretisch macht. Doch stellen wir Überlegungen zur Kanonbildung, die schnell und regelmäßig in konservative und hüftsteife Muster zurückfällt, hier einmal zur Seite. Was hat „Citizen Kane“ heute noch zu bieten? Warum findet man „Kane“ überall, von Kurosawa, über Kubrick, bis Tarantino, Batman und den Simpsons?

Wagt man sich an Filmklassiker heran, die für ihren Einfallsreichtum und filmhistorischen Einfluss berühmt sind, gehört fast immer ein gewisses Kontextwissen dazu. Das ist auch bei „Citizen Kane“ der Fall. Es ist hilfreich, ein halbwegs griffiges Bild vom Status Quo des amerikanischen Kinos Ende der 1930er zu haben, um wirklich zu erkennen, wo aus „Citizen Kane“ die vielbesprochene cineastische Revolution wird. Was bei nicht wenigen anderen Klassikern aber auch ein dazugehöriges Entgegenkommen erfordert, erübrigt sich bei Orson Welles‘ Quasi-Debüt als Filmschaffender. Selbst wenn man das Gesehene nicht so ganz treffsicher historisch verorten kann, spürt man bei „Kane“ noch heute, dass man es mit einem besonderen Film zu tun hat. Keineswegs kryptisch oder verkünstelt, ganz im Gegenteil, jedoch konzeptionell und inszenatorisch voller Leben, voller Energie und dadurch mit einer – noch heute – immensen Wirkung.

Die wenigsten kameratechnischen oder narrativen „Neuerungen“, die man „Citizen Kane“ zuschreibt, gehen wirklich originär auf Welles, Kameramann Gregg Toland oder Ko-Autor Herman J. Mankiewicz zurück. Auch der Stummfilm besaß schon Close-Ups und nicht-chronologische Erzählformen. Ein John Ford hatte erst wenige Jahre zuvor so manche technische Neuerung (teils ebenfalls mit Kameramann Toland) ausprobiert. Doch erst bei „Citizen Kane“ entfalteten diese Ideen ihre großflächige Wirkung. Erst in der Kombination miteinander und in der Funktion für eine gleichermaßen progressiv und selbstbewusst vorgetragene Geschichte wurden aus filmischen Tricks filmsprachliche Grundpfeiler, an denen von nun an kein Weg vorbeiführt. In der amerikanischen Filmgeschichte gibt es tatsächlich ein „vor Citizen Kane“ und ein „danach“.

Der Umgang mit Tiefenschärfe ist ein zentrales Element, welches häufig herausgestellt wird. Da gibt es die legendäre Szene, in der Kanes Mutter ihren Sohn an dessen neuen Vormund Thatcher überschreibt. Über eine nicht entfesselte, sondern aufwändig und lebendig geführte Kamera entwickelt sich die Szenerie, mit dem jungen Charles Foster Kane draußen im Schnee, während im Haus eine folgenschwere Unterschrift gesetzt wird. Ebenso wirkungsvoll und im damalige US-Kino praktisch nicht gekannt: der stilisierte Einsatz von Licht. Welles und Toland übertrugen den hell/dunkel „chiaroscuro“ Stil der Malerei auf den Film, suchten nach Wirkung und Emotionen, stellten diese höher als Natürlichkeit und schauspielerfreundliches Licht. Das beeinflusste den Film Noir mindestens so sehr wie es der Deutsche Expressionismus tat. Auch die Kamera bricht mit den Standards der damaligen Zeit, forciert mit Bewegung und Perspektive den genauen Blick des Zuschauers und die intensivere Wirkung einer Szene. Ja sogar das Maskenbild ist so sensationell wie außergewöhnlich. Nicht zuletzt ist es aber auch eine immense Geschichte, außergewöhnlich erzählt.

„Rosebud“ haucht der sterbende Charles Foster Kane ganz zu Beginn aus. Ein Filmzitat für die Ewigkeit und ein Rätsel für Zeitzeugen und Weggefährten innerhalb der Handlung. Kane (jung und alt gespielt von Orson Welles selbst) war ein schwerreicher Zeitungsmagnat, der seit Jahren zurückgezogen in seinem Schloss Xanadu verweilte. Ein Nachrichten Newsreel stellt uns schon früh in groben Zügen sämtliche Fakten aus Kanes Leben vor. Kindheit, erste Anfänge, der Durchbruch, der Erfolg und so weiter. Doch eine solche Zusammenfassung mit den naturgemäßen Lücken reicht weder dem Zuschauer dieses Films, noch der Reporterfigur Thompson. Also recherchiert Thompson, denn „Was“ passiert ist, stellt die weniger interessante Frage dar. Vielmehr geht es um das „Wie“ und das „Warum“. Thompson sucht nach wirklichen Zeitzeugen, nach Wegbegleitern und erhält die gewünschten Eindrücke. Doch auch diese sind lückenhaft, von Auslassungen und subjektiver Färbung geprägt. Und genau das überträgt sich auch auf „Citizen Kane“, noch ein paar Jahre vor Kurosawa, der mit „Rashomon“ (1950) einen Kunstbegriff für den Effekt der subjektiven Wahrheit prägen sollte. Charles Foster Kane ist in seiner Gesamtheit nicht zu greifen, er ist wie sein Abbild in der legendären Spiegelszene, x-fach reflektiert und erst auf den zweiten Blick real. Gerade durch diese Uneindeutigkeit, durch diese Widersprüche und Auslassungen, wird der Charakter und mit ihm der Film um ihn herum so spannend und faszinierend.

Die wenigsten Zuschauer des 21. Jahrhunderts, die – womöglich von David Finchers „Mank“ (2020) neugierig geworden – nun erstmalig einen Blick auf „Citizen Kane“ werfen, dürften im Anschluss dasitzen und sich denken: „Das war save der beste Film aller Zeiten.“ Mit diesem Image als vermeintliches Über-Meisterwerk der Filmgeschichte entstehen auch Erwartungen, denen eigentlich kein Film je wirklich gerecht werden kann. Auch nicht dieser. Doch es muss gar nicht der „beste aller Zeiten“ Effekt sein. „Citizen Kane“ hat schlicht und ergreifend Qualitäten, die man fast als unübersehbar bezeichnen möchte. Ein fast 80 Jahre alter Film, der noch immer frisch, lebendig und einfallsreich wirkt. Ein Klassiker, der auch heute noch sehenswert ist und Spaß macht.

(Bewertung überflüssig/10)

Autor: Christian Westhus

Ein echter Ostwestfale. Gebürtig aus einer kleinen Doppelstadt, die niemand kennt, studierte Literatur in einer Stadt, die es angeblich nicht gibt (Bielefeld). Arbeitet seit 2006 für BereitsGesehen, schreibt Kritiken und Kolumnen, gehört zum Podcast Team und ist einmal im Monat beim KultKino in Lippstadt zu sehen.

Um an dieser Diskussion teilzunehmen, registriere dich bitte im Forum:
Zur Registrierung