Treasure Tuesday Spezialkritik: „A Beautiful Day“ – „You were never really here“

17. November 2020, Christian Westhus

Joaquin Phoenix als Quasi-Joker, bevor er Joker wurde. Lynne Ramsay ist eine ungemein spannende Filmemacherin, dreht aber zu selten. Nun wagt sie sich an Stephen King. Grund genug also, ihre Filme genauer unter die Lupe zu nehmen. „A Beautiful Day“ (2017), unser heutiger Treasure Tuesday Tipp. Jeden Dienstag auf Erkundungstour gehen. Wir stöbern nach vergessenen Filmen, unterschätzten Filmen, alten Filmen, fremdsprachigen Filmen. Nach Filmen die sich lohnen, auch wenn gerade nicht die halbe Welt über sie spricht.

© Alison Cohen Rosa/Amazon Studios + Constantin Film

A Beautiful Day
(Originaltitel: You were never really here | UK, USA, Frankreich 2017)
Regie: Lynne Ramsay
Darsteller: Joaquin Phoenix, Ekaterina Samsonov u.a.
Kinostart Deutschland: 26. April 2018

Was ist das für ein Film?
Joaquin Phoenix als Rächer mit dem Hammer. Doch in den Händen von Regisseurin Lynne Ramsay („Ratcatcher“, „We need to talk about Kevin“) wird der Roman von Jonathan Ames zu einem ganz eigenen Genre-Stück. Phoenix ist Joe, ein durch Kindheit, Kriegsdienst und Lebensumstände geprägter und traumatisierter Mann. Joe ist eine Art Söldner, ein „hired gun“, gleichermaßen Detektiv und rächender Richter. Über einen Verbindungsmann erhält er Aufträge, um entführte Mädchen aus den Händen von Menschenhändlern und Zuhältern zu befreien. Oder, um an den Tätern kompromisslose Rache zu verüben. Nun sucht ein Senator den Kontakt zu Joe. Tochter Nina wurde entführt und wird vermutlich in einem verdeckt operierenden Bordell in New York gefangen gehalten. Joe zieht los, schnappt sich einen neuen Hammer als Mordwerkzeug und will zur Tat schreiten, doch die Dinge entwickeln sich anders als gedacht.

Warum sollte mich das interessieren?
Als der Film 2017 erschien, fühlten sich angesichts eines bärtigen Joaquin Phoenix nicht wenige Zuschauer an seine „I’m still here“ Jahre erinnert. Nicht zuletzt da der Originaltitel dieses Films wie eine Reaktion auf die Mockumentary klingt. Heute, 2020 und darüber hinaus, muss man unweigerlich an „Joker“ (2019) denken. Es ist schier unvermeidlich, auf eine thematische-konzeptionelle Erkundungstour durch „Joker“, „Taxi Driver“ (1976) und eben „A Beautiful Day“ zu gehen. Geschichten über traumatisierte und mental instabile Männer, die sich – sozial isoliert – früher oder später durch Gewalt Gehör verschaffen und dabei nicht zuletzt auch die Reichen und Mächtigen ins Visier nehmen. Die junge Nina dieses Films erinnert mehr als deutlich an Jodie Fosters Rolle in „Taxi Driver“. Joes „Sturm“ auf das grausige Etablissement in New York hat mehr als nur äußerliche Ähnlichkeit zu Travis Bickles finalem Feldzug. Auch mit „Joker“, der selbst mehrfach mit Martin Scorsese Klassiker verglichen wurde – und verglichen werden wollte –, hat „A Beautiful Day“ mehr gemein als nur den Hauptdarsteller und vage Plot-Ähnlichkeiten. Das gepeinigte Seelenheil des Protagonisten dominiert beide Filme, während Joes physischer Zustand wie der gezielte Gegenentwurf zu Arthur Fleck wirkt.

In den Händen einer radikal eigensinnigen Regisseurin wie Lynne Ramsay ist ein Stoff wie dieser jedoch nie bloß oberflächlich zu lesen. Zwar zeigt „A Beautiful Day“ ein besseres Verständnis des berühmten Vorgängers und – wichtiger noch – seiner Hauptfigur, doch Ramsay hält sich gar nicht lange mit Hommage und Referenzen auf. Und „gar nicht lange“ heißt hier „überhaupt nicht“. Es scheint für die Filmemacherin irrelevant, welche Vergleiche man an- und aufführen will, wie es auch irrelevant scheint, Genre-Erwartungen zu befriedigen. Ramsay selbst beschrieb den Plot der Romanvorlage als tendenziell generisch, jedoch mit einer faszinierenden Figurenpsychologie. Und genau hier tobt sich die Schottin aus.

„A Beautiful Day“ ist weder ein echter Thriller, noch ein Actionfilm. Der stilistisch nächste Verwandte ist Nicolas Winding Refns „Drive“ und selbst dieser wirkt im Vergleich dann doch eher wie der „Fast and Furious“ Ableger, den viele damals erwartet hatten. Ohne ein Gramm Fett auf nicht einmal 90 Minuten geschnitten, erzählt Ramsay ihren Film kompromisslos aufs Wesentliche fokussiert. Und das Wesentliche sind Stimmung und Psychologie. Wie ein Kopf voller Scherben, beschrieb Phoenix selbst den Zustand seiner Figur. Phoenix, seit Jahren einer der besten und spannendsten Darsteller dieser Zeit, interpretiert Joe als ruhigen, innerlich vernarbten und immerzu brodelnden Menschen. So beginnt der Film damit, wie Joe unter einer Plastiktüte dem Ersticken nahekommt und erst im letzten Augenblick verhindert. Lynne Ramsay lässt dieses Innenleben lebendig werden. Dies gelingt über die ungewöhnliche Kameraarbeit, den überrumpelnd-effektiven Schnitt und durch Jonny Greenwoods kakophonische Klanggenialität. Ramsay erzählt elliptisch, mit radikalen Auslassungen und gezielt an klassischer Genre-Befriedigung vorbei. Joes Gewalt ist keine cineastische Ekstase oder ein stilistischer Eskapismus. Stattdessen abstrahiert Ramsay die Gewaltszenen, wenn sie sie überhaupt zeigt. Den Effekt dieser Inszenierungsart demonstriert der unterschwellig intensive Film insbesondere in einer Szene unerwarteter Empathie. Denn trotz Scherben im Kopf, bei aller menschlichen Finsternis, die wir mit und in Joe durchschreiten, findet „A Beautiful Day“ doch irgendwie irgendwo ein kleines helles Licht in der Ferne.

Als DVD/BD/Digital erhältlich. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung bei Netflix im Abo verfügbar.

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Autor: Christian Westhus

Ein echter Ostwestfale. Gebürtig aus einer kleinen Doppelstadt, die niemand kennt, studierte Literatur in einer Stadt, die es angeblich nicht gibt (Bielefeld). Arbeitet seit 2006 für BereitsGesehen, schreibt Kritiken und Kolumnen, gehört zum Podcast Team und ist einmal im Monat beim KultKino in Lippstadt zu sehen.

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