BG Kritik: „Short Term 12 – Stille Helden“ (Treasure Monday)
Damals ein kleiner-feiner Indie-Film, heute ein früher Blick auf spätere Stars: Grace (Brie Larson) ist leitende Aufseherin eines Betreuungsheims für Jugendliche. Mit ihren Kollegen, darunter ihr Freund Mason, versucht sie den Kindern aus zerrütteten und instabilen Elternhäusern eine stabile Basis auf dem Weg zur Selbstverantwortung zu bieten. Grace hat selbst ihre Erfahrungen in der Jugend gemacht, die sie lange unterdrückt hat, die jedoch durch den störrischen Neuankömmling Jayden (Kaitlyn Dever) neu geweckt werden.
Short Term 12: Stille Helden
(Originaltitel: Short Term 12 | USA 2013)
Regie: Destin Daniel Cretton
Darsteller: Brie Larson, Kaitlyn Dever, John Gallagher Jr., Rami Malek, LaKeith Stanfield
Veröffentlichung Deutschland: 26. September 2014 (DVD Premiere)
(Diese Kritik erschien ursprünglich im Rahmen der Kritikenreihe ‚Treasure Monday‚, veröffentlicht Dezember 2014.)
Spielfilme bewandern jederzeit einen schmalen Grat zwischen dokumentarischem Realismus und künstlerisch Dramatisierung. „Short Term 12“ nutzt die Empathiemöglichkeiten des Kinos, um Einblick in eine eigentlich allgegenwärtige und doch selten beobachtete Welt zu geben.
Wenn sich das Kino mit Jugendlichen und Korrektionsanstalten beschäftigt, sind die jungen Menschen meist aus einer Vielzahl von Gründen vom rechten Weg abgekommen, landeten nach kriminellen Vergehen oder Drogeneskapaden in Anstalten, die einem Knast ähnelten oder ein solcher waren. In „Short Term 12“ werden die Kids nicht aus Schutz der Gesellschaft festgehalten, sondern werden betreut und umsorgt, weil sich sonst niemand um sie kümmern und sorgen kann oder will. Diese Jugendlichen sind keine minderjährigen Straftäter, die hier eine Form von Jugendstrafe absitzen. Sie sind in erster Linie eine Gefahr für sich selbst, sehen sich, als Reaktion auf eine Umwelt und ein Elternhaus, das keinen Platz für sie hatte, in die emotionale Isolation getrieben, halten sich mit Drogen oder selbst zugefügten Schmerzen in einem erträglichen Zustand.
Insbesondere zwei Jugendliche stehen bald im Fokus des Interesses. Regisseur und Autor Destin Daniel Cretton, der selbst in einem ähnlichen Pflegeinstitut arbeitete, legt viele seiner Figuren als Paare, als Spiegel und Gegensätze an. So auch Marcus und Jayden. Marcus (LaKeith Stanfield) ist seit ein paar Jahren in diesem Heim, doch da er bald volljährig sein wird, steht sein Abschied unmittelbar bevor. Und Marcus hat Angst vor der Außenwelt, hat Angst, dort den Anschluss nicht zu packen, verloren zu sein und abzurutschen. Jayden (Kaitlyn Dever) fängt gerade erst an, ist neu hier und stellt sich mit der Ankündigung vor, schon bald wieder bei ihrem Vater leben zu werden. Grace, die kaum 30-jährige leitende Betreuerin der familiären Pflegegruppe, versucht zu der abweisend passiven Jayden durchzudringen, ihren bissigen Sarkasmus zu durchbrechen und zu erkennen, warum sich das noch junge Mädchen so sehr abschottet und mit Schmerz triezt. Was Grace durch die langsam bröckelnde Fassade erkennt, kommt ihr nur zu vertraut vor.
Der für kaum eine Million Dollar gedrehte Independent Film präsentiert sich zunächst erwartungsgemäß mit Handkamera, Mitt-Zwanzigern als Protagonisten und mit einem sozialen Kernthema. Doch Cretton ist als Autor und Regisseur klug genug, um mehr aus seinen Ideen und seinen Erfahrungen zu machen. Und er hat Darsteller um sich, die zu motiviert, zu talentiert sind, als dass sie sich durch vage improvisierte Banalitäten bewegen müssten. Cretton dreht keinen unfokussierten Schnipsel-Lebensalltag, er dreht vielmehr ein wunderbar entwickeltes Drama, das sein realistisches Grundkonzept und seine natürlichen Figuren gezielter, spürbarer dirigiert und arrangiert. So wird „Short Term 12“ nicht nur ein faszinierender Einblick in den so authentisch wirkenden Alltag der Pflegeanstalt, sondern „Short Term 12“ erzählt auch eine dramaturgisch wunderbar entwickelte Geschichte.
Cretton nutzt den lockeren Stil des amerikanischen Independent Kinos clever. Die Handkamera ist immer nah am Geschehen, beobachtet frei, aber nie zufällig. Der ausgeklügelte Einsatz von Nahaufnahmen findet seinen Höhepunkt, wenn Marcus sich nach einem Zwischenfall öffnet und sein aufgewühltes Innenleben als Rap herausbringt, der so sehr fasziniert und bewegt, wie er schockiert. Wir stellen verblüfft fest, wie wunderbar Grace und ihr Freund Mason zusammenpassen, zunächst als Paar und dann als Filmfiguren, wenn die Unterschiede der eigenen Jugend beider das Wesen und die Taten als Erwachsene beeinflussen. Und so fühlt sich Grace mit der jungen Jayden verbunden, deren Trotz ein Schutzpanzer ist, so wie bei Grace das Schweigen. Die Darsteller liefern großartige Leistungen ab, auch das erweiterte Personal und die übrigen Kids im Haus. Doch es ist ganz klar die lange überfällige Durchbruchsrolle für Brie Larson. Die junge Amerikanerin, die durch die Serie „Taras Welten“ und Nebenrollen in „Scott Pilgrim vs. the World“ und „21 Jump Street“ bekannter wurde, geht diese hochkomplexe Rolle mit einer beeindruckenden Natürlichkeit an.
Fazit:
Faszinierender und hochemotionaler Einblick in die psychologischen Dimensionen jugendlicher Pflegeanstalten, wie unterdrückte Scham und Kummer einen Mensch innerlich aufwühlen. Geschickt strukturiert und glänzend gespielt.
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