BG Streitgespräch: Scorsese sagt, Comicverfilmungen seien kein Kino…hat er Recht?

15. Oktober 2019, Christian Westhus


Ein Sturm zieht gerade durchs Internet oder besser gesagt im modernen Slang: ein Shitstorm. Das Ziel? Martin Scorsese. Der Grund? In der aktuellen Ausgabe des Empire Magazins wurde er gefragt, was er denn von Comicverfilmungen halten würde und er meinte, dass sie für ihn kein Kino seien. Hat er damit Recht? Fairerweise sei direkt gesagt, dass nur ein Auszug des Interviews viral ging und man noch nicht weiß, wie genau die Frage dazu gestellt wurde, auf welche Comicvefilmungen er sich tatsächlich bezieht und, ob er womöglich falsch oder zu kurz zitiert wurde. Die BG Redakteure Manuel Föhl, Christian Westhus und Christian Mester nehmen sich der angeblichen Kontroverse an und brainstormen, wie man diese lesen und vielleicht sinnvoll einsetzen kann.

Erstmal Scorseses Ausssage (im Original) wie folgt:

I don’t see them. I tried, you know? But that’s not cinema. Honestly, the closest I can think of them, as well made as they are, with actors doing the best they can under the circumstances, is theme parks. It isn’t the cinema of human beings trying to convey emotional, psychological experiences to another human being. (Zu Deutsch in etwa: „Ich schaue diese Filme nicht. Ich habe es versucht, wissen Sie? Aber das ist nicht Kino. Um ehrlich zu sein, so gut gemacht sie auch sind, mit Schauspielern, die in Anbetracht der Umstände ihr Bestes geben, aber der beste Vergleich zu diesen Filmen sind Freizeit-/Themenparks. Es ist nicht das Kino von und über Menschen, die emotionale oder psychologische Erfahrungen anderen Menschen nahbar machen.“)

© The Walt Disney Company

Manuel Föhl: Was können wir zuerst daraus lesen? Er schaut sich die Filme eigentlich gar nicht an. Nun könnte man es sich leicht machen und ihm dies direkt entgegen halten – wie es beispielsweise James Gunn in einem mittlerweile gelöschten Tweet getan hat – dass er hier über etwas ein Urteil gebildet hat, dass er gar nicht kennt. Man darf aber davon ausgehen, dass er beispielsweise die DARK KNIGHT-Trilogie eines Christopher Nolan gesehen hat (die Beiden sind befreundet). Dies bringt uns nämlich direkt zu dem Punkt, von welchen Filmen spricht er überhaupt? Es ist naheliegend, dass er damit auch und vor allen Dingen die Comicfilme aus dem Hause Marvel/Disney meint, die eben gerade das Kino dominieren. Er gibt zu, dass diese gut gemacht sind und die Schauspieler ‚das Beste unter den gegebenen Umständen‘ geben, es aber kein Kino sei, sondern ein Freizeitpark. Netterweise gibt er uns auch gleich sein Verständnis von Kino mit. Es ist das Kino von Menschen, die versuchen emotionale und psychologische Erfahrungen anderen Menschen zu vermitteln. Das ist sein Begriff von Kino und die Leistung, die er vom Kino erwartet, die seiner Meinung nach nicht von Comicverfilmungen geleistet wird. Und damit mag er gar nicht so Unrecht haben.
Der Kinobegriff ist womöglich ungünstig gewählt, denn im Grunde spricht er hier nur vom bekannten Thema des Kinos der Attraktionen, wie es schon seit dem frühen Film vom sonstigen ernsten Film abgegrenzt wird. Ein Kino, das heute vor allen Dingen von Blockbustern geliefert wird. Das auf seine Schauwerte und technischen Errungenschaften setzt. Dies ist zu honorieren, aber inszenatorisch oder darstellerisch haben bis dato Comicverfilmungen keine herausragende Stellung? JOKER mag da vielleicht bald die Ausnahme der Regel sein und auch ein Christopher Nolan dürfte da beispielsweise schon Gründe gegen die Ansicht präsentiert haben. Aber wer sich darüber aufregt, dass Disney bei seiner Oscar-Kampagne nicht auf Robert Downey Jr. als Bester Darsteller setzt, sollte sich mal ein paar der Oscar-Gewinner der letzten Jahre anschauen. Da hat ein Iron Man nichts zu suchen. Er mag Emotionen in AVENGERS: ENDGAME evoziert haben, aber war dies eine so herausragende Leistung? Ich denke nein.
Kino ist für Viele das große Blockbuster-Kino. Wenn ein Simon Krätschmer sich in der Sendung Kino+ des Internetsenders Rocketbeans hinstellt und meint: „Redende Leute in Räumen ist nichts fürs Kino“, dann merkt man hier schon eine große Diskrepanz. Quasi der Gegenentwurf zu Martin Scorsese. Der eine Zuschauer sucht die großen Explosionen, der andere die großen Emotionen. Beides hat aber eigentlich seinen Platz im Kino.
Ich glaube auch nicht, dass wir hier einen angesäuerten oder enttäuschten Martin Scorsese hören, der zu einem Streaming-Dienst musste um seine (über) 100 Millionen-Produktion vor die Kameras zu bekommen, weil Studios in dem Budget-Bereich nur noch nach Franchises gieren. Ich denke er hat sich vielleicht etwas kurz angebunden ausgedrückt und nun wird ein jedes Wort auf die Goldwaage gelegt. Doch warum die Aufregung? Wegen dieser Aussage werden nicht weniger Comicverfilmungen produziert werden und das Martin Scorsese mal bei einer auf dem Regiestuhl Platz nehmen wird, hat ja wohl auch keiner erwartet. Selbst bei JOKER, der wohl seiner Idee einer gelungenen Comicverfilmungen am ehesten Nahe kommen könnte, war er am Ende nicht mehr als Produzen beteiligt. Deswegen alles halb so wild, auch wenn Martin Scorsese in Teilen Recht haben mag, die Formulierung des Ganzen ist aber etwas unglücklich.

Christian Westhus: Der Zyniker könnte jetzt sagen, dass auch dieser Sturm der angeblichen Entrüstung vielleicht nicht komplett inszeniert ist, aber von Disney/Marvel und Co. als geschicktes Marketing genutzt wird, um die Fanbase zu mobilisieren und diese im Internet Treueschwüre heraus brüllen zu lassen. Man muss bei solchen Aussagen ja auch immer den Frage-Kontext beachten. Scorsese hat ja keine Pressekonferenz berufen, um der Welt mitzuteilen, was er von Superheldenfilmen hält. Scorsese ist allerdings durch und durch Cineast, ein Filmliebhaber mit einem schier endlosen Filmwissen, der freie Zeit, Geld und seinen Namen in Filmbildung steckt, in die Restaurierung und Präservierung von Filmen. Und ein solcher Filmliebhaber, der zu den berühmtesten und besten noch lebenden Regisseuren gehört und bald einen neuen Film vorstellt, wurde eben zu einem (schon länger) aktuellen Film- und Kinotrend befragt. Und die Antwort war ehrlich, aber nun auch nicht bösartig. Da bereiteten mir zum Vergleich manche Aussagen von „Joker“ Regisseur Todd Phillips größere Sorgen. (Doch dieses politische Fass lassen wir erst einmal verschlossen.) Man könnte sich auch einfach als Gegengewicht an einen Paul Thomas Anderson halten, der ein ähnlich filmbegeisterter „Snob“ ist, zum Stichwort Superhelden aber ganz andere Töne anschlägt.
Was halten wir nun davon? Oder anders gefragt: wie relevant ist eine Aussage zu Superheldenfilmen von einem Ü70 Hypercineasten wie Scorsese? Wie Manuel schon angerissen hatte, beschreibt Scorsese in seiner Ablehnung des Superheldensubgenres erst einmal sein subjektives Verständnis des Begriffs „Kino“. Dem kann man sich anschließen oder es sein lassen. Diese Auffassung zum Kino ist ja nun auch nicht vollkommen falsch oder naiv aus der Luft gegriffen, sie ist nur ein wenig zu eng gefasst. Wenn mich etwas an dieser Aussage stört, dann ist es diese Pauschalisierung, dass er beim Begriff „Kino“ und auch beim Genre des Superheldenfilms augenscheinlich alles über einen Kamm schert. Auch diese Pauschalisierung kann man durch den Frage-Kontext sicherlich etwas abmildern und als rhetorische Abkürzung werten, doch Scorseses Scheuklappen irritieren ein wenig. Sie irritieren, wenn sie von einem Mann kommen, der vor wenigen Jahren Stummfilmregisseur Georges Méliès ein eigenes filmisches Denkmal gesetzt hat. Méliès‘ Filme von unheimlichen Häusern und Reisen zum Mond waren sicherlich nicht in erster Instanz an menschlichen Emotionen oder menschlicher Psychologie interessiert. Méliès nutzte Film als Transportmedium für und in phantastische Bildwelten hinein, mit einem Fokus auf Effekte und Schauwerte. Die Säuglingsjahre des Films zeigen uns, dass das, was etwas später mal „Kino“ werden sollte, schon von Beginn an unterschiedliche Spielformen besaß.
Wenn man Scorsese überhaupt irgendeine „Agenda“ unterstellen will, dann diese, dass er eine dauerhafte und – wichtiger noch – einseitige Verformung des Kinos befürchtet. Superheldenfilme sind die dominante Gestalt des Kinos unserer Tage und es kann nicht schaden, insbesondere wenn man Scorseses Erfahrung und Ansehen besitzt, einmal daran zu erinnern, dass das Medium bzw. die Kunstform nicht ausschließlich aus dieser dominanten Form bestehen muss. So gesehen finde ich die oben zitierte Aussage von Herrn Krätschmer eigentlich schädlicher, denn sie entspricht dem, was man in der Stand-Up Comedy als „punching down“ bezeichnet: jemand setzt sich für die dominierende Mehrheit ein und redet dabei Minderheiten und Randerscheinungen klein und schwach, die ohnehin schon wenig Land gegen die Platzhirsche sehen.
Fragen wir uns aber auch mal ganz unabhängig davon, wie wir Scorsese in seiner Aussage bewerten wollen: warum gerade Superhelden? Und warum ausschließlich Superhelden? In Teilen habe ich diese Frage schon beantwortet, da es eben eine Frage zum populärsten Genre war, doch was genau macht Superheldenfilme zu Themenparkattraktionen? Zählen Filme wie „Transformers“ da auch zu? Und was genau ist damit eigentlich gemeint? Warum ein Themenpark? Muss das schlecht sein? Diese Fragen würde ich vorerst einmal weitergeben. (Und die von Manuel erwähnten Oscars würde ich gerne direkt ausklammern, denn so gerne ich die Show jedes Jahr gucke, Robert Downey jr. für „Endgame“ den Oscar zu geben wäre sicherlich nicht die dämlichste Aktion der Oscar Academy in dieser Dekade. Soll heißen: die Oscars sind auch nicht die finalen und alles entscheidenden Schiedsrichter für gutes Kino.)

© Warner Bros.

Manuel Föhl: HUGO ist ein gutes Beispiel, wobei auch da ein Martin Scorsese, wenn er möchte, seinen Kino-Begriff von absetzen könnte. Denn als ein Georges Méliès seine Hochzeit hatte, war das Kino eben noch mehr eine Jahrmarktsattraktion, streng genommen. Aber ich traue solch einen Korinthenkacker Martin Scorsese nicht zu. Zu den abschließenden Fragen. Ja ich denke das TRANSFORMERS zweifellos für ihn in dieselbe Kerbe schlagen würde. Und was damit gemeint ist? Nun es werden eben, so verstehe ich ihn, andere Sinne beim Zuschauer angesprochen. Beim Themenpark eine gewisse, kurzweilige Unterhaltung und Sensationslust, während sein ‚Kino‘ sich mit ernsteren Emotionen auseinandersetzt. Es bleibt eben eine sehr offene Aussage, die er da getätigt hat und die ihm nun angekreidet wird. Man stelle sich aber mal vor ein Kevin Feige als krasses Gegenteil, der kaum ein Gespür und Wissen von Filmgeschichte hat – das Video eines Videothekenbesuch seinerzeit mit THOR: THE DARK WOLD-Regisseur Alan Taylor in Deutschland spricht da Bände – behauptet die Filme von Martin Scorsese gehörten ins Museum und seien kein Kino für ihn. Was wäre dann los? Wäre der Aufschrei ähnlich? Wohl kaum. Comic/Blockbuster-oderwasauchimmer – Fans scheinen sich oftmals schnell auf den Schlips getreten zu fühlen, wenn jedwede Kritik an ihren Lieblingsprodukten aufkommt. Aber warum? Die Erfolge an den Kinokassen bestätigen doch einen gewissen Konsens? Braucht es die Absolution eines Martin Scorsese? Braucht es Preise? Kinos leben von den großen Erfolgsfilmen, auch wenn ein Verleiher wie Disney davon immer weniger den Kinos lassen möchte, aber das ist ein anderes Thema. Das weiß auch ein Martin Scorsese. Aber, anders als Disney, möchte er eben weiter auch das in den Kinos sehen, was es seiner Meinung nach auch definiert.

Christian Westhus: Ich möchte noch einmal dem Begriff Themenpark nachgehen und ihn noch etwas aufdröseln. (Einwurf: Ist das Wort dröseln bekannt? Ist das Dialekt?) Jedenfalls: Das englische „theme park“ würde ich nur bedingt Synonym mit Freizeitpark übersetzen. Es ist der Themenpark und nicht jeder Freizeitpark ist gleichzeitig ein Themenpark. Freizeitparks haben häufig Themenbereiche, z.B. die beliebte Western Stadt. Und hier liegt der sprichwörtliche Kojote begraben, denn in den Themenbereichen findet man eine zu reinen Eskapismus- und Unterhaltungszwecken nachgestellte und zumeist in Übertreibung abstrahierte Version des Originals vor. Es sind Masken, Kostüme, Gesten und Zitate, die eine popkulturelle Ahnung des – in diesem Beispiel – Wilden Westen vorgeben, dabei aber nur bedingt Zeit, Mühen und Interesse an historischer und/oder kultureller Authentizität aufbringen. Doch sind Superhelden nach Scorsese nun Themenparkversionen von Heldengeschichten oder von klassischem Kinodrama? Stellen wir uns mal vor, nicht Superhelden sondern „pulpy Fantasy“ irgendwo zwischen „Herkules“, „Conan“ und „He-Man“ wäre das populäre Bild des Unterhaltungskinos. Würde Scorsese das auch derart ablehnen? – Kann man nur spekulieren.
Ich denke, wir sollten uns von Martin Scorsese als Person lösen. Ich denke auch, dass es müßig ist, über den generellen Sinn oder Unsinn eines Subgenres zu ausführlich zu diskutieren. Scorsese ruft ja auch nicht zum Verbot oder zu einem gewünschten Ende des Genres auf, sondern zieht – vermutlich – für sich persönliche Interessensgrenzen und erinnert daran, dass Kino vielseitig ist. Und so machen wir es ja auch. Superheldenfilm ist nicht gleich Superheldenfilm. Aber wer jetzt zu laut und vehement gegen einen Regisseur wie Martin Scorsese wettert, sollte sich vielleicht einmal vorstellen, wie öde, langweilig und erbärmlich die Kinolandschaft wäre, würde es nur noch Superheldenfilme geben. Gleichzeitig muss nicht jeder Film ein Bergman Drama sein. Oder eines von Scorsese.
Aber Manuel, du sprichst mit dem Schutzreflex von Superheldenfilmfans das eigentlich spannendere Thema an. Es ist auch ein heikles Thema. Leider. Es ist schon erstaunlich, wie Teile (!) einer Gruppe, die seit Jahren kulturell extrem verwöhnt wurden, häufig so schnell und gefühlt grundlos in Extreme verfallen. Man sieht das aktuell wieder an „Joker“, der zumindest im englischsprachigen Social Media Kosmos zwischen YouTube und Twitter einen von Aggressionen, Anfeindungen und haltlosen Unterstellungen geprägten „Diskurs“ ausgelöst hat. Bei „Joker“ tut sich erneut eine gewisse Diskrepanz zwischen professioneller Filmkritik und der angeblich uniformen Gesamtheit aus normalsterblichen Kinogängern auf. Ähnlich wie bei „Batman V Superman“, „Suicide Squad“ oder „Justice League“ (ist es ein DC Problem?) wird jedem professionellem Schreiber, der „Joker“ (übrigens aktuell bei imdb.com in der Top 10 der besten Filme aller Zeiten) nicht super findet, das Trendwort „political bias“ um die Ohren geschlagen. Wie gesagt #NichtAlleJokerFans, aber es sind erneut ein paar wilde und laute Stimmen, die nicht damit leben können, dass andere Leute einen Film, den sie toll fanden, nicht zu schätzen wussten. Institutionen wie Feuilleton Journalismus und die Oscars werden gerne niedergebrüllt und als nicht notwendig bzw. als unfähig erklärt, aber gleichzeitig zeugt dieser Onlinewiderstand doch von einem verzweifelten Wunsch, durch eben diese Institutionen legitimiert zu werden. Als wenn irgendwo in der Superhelden-/Comic-/Nerdkultur immer noch das alte Underdog Gen verankert ist, welches selbst nach fast zwei Jahrzehnten im kulturellen Sonnenlichtzentrum immer noch negative Angstbotenstoffe durch den Körper jagt, sobald sich eine andere Person negativ dazu äußert. Ein Martin Scorsese fungiert nun eben auch als Repräsentant einer gewissen Institution.
Du schneidest es ja auch an: die Milliardengewinne an den Kinokassen sollten der Superhelden-Nerdseele doch ausreichend sein. Und wenn mir der Verriss von Kritiker-X gegen den Strich geht, werde ich diese Person in Zukunft meiden und mir andere Schreiber/Publikationen suchen, wenn ich Interesse daran habe, tieferen Einblick in einen Film zu erhalten. Aber hier liegt das nächste Problem begraben: die Diskrepanz zwischen professioneller Kritik (die ja beim besten Willen nicht geschlossen für oder gegen Superhelden ist) und (ebenfalls nicht geeinter) Zuschauerschaft liegt, denke ich, auch am Selbstverständnis von Filmkritik. Es ist Aufgabe eines Filmjournalisten, nicht bloß Inhalte und Unterhaltungsfacetten zu beschreiben, sondern sich einem Film – nun – kritisch zu nähern. Und dieses „sich kritisch nähern“ wird von Lesern gerne mit einer negativen Grundeinstellung verwechselt. Es gibt so viele interessante und spannende Arten, sich einem Film zu nähern. Und zumindest ich persönlich lese deswegen zu gewissen Filmen gerne die verschiedensten Reaktionen und Stimmen. Darunter auch „normale“ Kinozuschauer, doch selten findet man (oder finde ich) dort einen Text oder ein YT-Video, welches so fundiert ausgearbeitet ist wie die „kritischen“ Werke von Profis. Doch andererseits: was heißt „Profi“ heutzutage überhaupt noch? Die Unterschiede zwischen YT-Kritikern wie z.B. Chris Stuckman und Kritikern, die für alteingesessene Print Publikationen schreiben, sind zunehmend marginal. Solange beide bzw. alle Seiten ihren Job machen und sich auf interessante und fundierte Art kritisch mit dem Film auseinandersetzen, ist es doch vollkommen in Ordnung. (Und bevor falsche Schlüsse gezogen werden: auch unter den YT-Kritikern findet man garantiert „Joker“ Reaktionen aus allen Qualitäts- und Urteilsrichtungen.) (Sind wir eigentlich noch beim Thema? *Angstschweißtropfen* Ich denke immerhin, dass uns die Scorsese Sache an einen lohnenswerten Ort geführt hat.)

(C) Sony Pictures, Marvel Studios

Christian Mester: Ich denke schulterzuckend, dass diese ganze Sache ein brennendes Paradebeispiel für die aktuellen Scheinprobleme unserer Gesellschaft ist. Preisgekrönter Regisseur von anspruchsvollen Filmen sagt, er schaue keine spektakelorientierten Unterhaltungsfilme. Ok. Marvel Fans sind folglich irritiert, dass Scorsese es herablassend meint. Todd Philipps oder JOKER Filmfans sind beleidigt, dass der Film nicht als was Besonderes gesehen und mit in die gleiche Schublade gesteckt wird wie das vermeintlich schlechtere. Cine Snobs sind pikiert, dass Todd Phillips mit seinem von TAXI DRIVER und KING OF COMEDY inspirierten Film nicht an TAXI DRIVER und KING OF COMEDY herankommt. Scorsesefans sind irritiert, dass sich die Marvelfans über Scorsese aufregen, während sich viele darüber aufregen, dass ein Film über den Ursprung des berühmtesten fiktiven Verbrechers zynisch, anarchisch und nicht verbrechensmahnend ist. Während Warner Bros ablacht, wissend, dass der JOKER wohl locker an die 700 Millionen oder mehr einspielen wird. Letzten Endes verlieren fast alle, vor allem in unsinnigen Social-Media-Disputen – dabei gewinnen wir Cineasten eigentlich.

Klar, es mag irritierend sein, dass Warner Bros ihr Filmuniversum verkackt hat und irritierend mehrspurig weiterführt (sie machen SUICIDE SQUAD 2, AQUAMAN 2, WONDER WOMAN 2, remaken aber BATMAN und streichen Superman mal wieder, Joker spielt in einer ganz eigenen Liga), aber hey – Joaquin Phoenix ist einer der besten Schauspieler unserer Zeit, und auch wenn Todd Phillips die angepeilten Vorbilder nicht erreichen mag, ist es doch über allem löblich, dass es überhaupt so einen Film mit Comicursprung gibt. Der mal nicht auf Action und Spaß setzt und sich stattdessen recht finster mit Psychosen und Gewaltfindung beschäftigt. Wann lernt man endlich mal, dass es kein DC vs Marvel gibt, oder Unterhaltungsfilme vs Anspruch? Es gibt keine Teams im Kino, keine klaren Seiten, die man beziehen kann oder muss. Es gibt keine Gewinner oder Verlierer. Man braucht das Gefühl nicht, auf einer Seite zu stehen und gegen eine andere zu gewinnen.

Na schön, dann mag Scorsese keine Comicfilme. Und? Das hat doch nichts zu bedeuten, vor allem nicht, wenn man ihm nicht den Rahmen gibt, diese Meinung näher zu erklären. Was bleibt, sind heraufbeschworene Interpretationen und Gefühlsreaktionen. JOKER schürt Diskussionen, ist finanziell erfolgreich und würdigt eine offensichtlich großartige Schauspielleistung. Ist das nicht schon ein klarer Gewinn auf der ganzen Linie? Was will man mehr von einem Film? Wenn er jetzt noch Marvel + DC dazu beeinflusst, öfter ungewöhnliche, unkommerziell anmutende Ansätze zu verfolgen, führt das zu mehr Vielfalt. Vielleicht genau das richtige, was diese Art Film in der nächsten Dekade braucht, um frisch zu bleiben. Und die typischen MCU haften Filme werden auch bleiben – das diktieren die Zahlen. Ich denke, hier werden künstlich Konflikte entwickelt, die sich kein Mensch antun muss, und die vermutlich nur dazu führt, dass proxyhaft Alltagsfrust Ventil findet, was man selbst verarbeiten und nicht übertragen sollte. Um es auf Fussball zu übertragen: klar kann es ärgern, wenn das eigene Team verliert, aber sobald man die Fans der Gegenseite niederskandiert, deren Autos zerkratzt oder den gegnerischen Spielern gebrochene Beine wünscht, geht es zu weit, zeigt es auch zu sehr, dass ganz andere Probleme ausgelagert werden.

Und ich? Ich selbst habe kein großes Interesse am JOKER Film. Warum? Weil er noch weniger fantastische Elemente als die DARK KNIGHT Trilogie mit sich bringt und im Grunde zeigt, wie ein Mann mit Psychosen durch äußere Einflüsse und Zufälle zum angesagten Medienstar wird. So blöd es klingen mag, aber tatsächlich hätte ich lieber einen Joker Film mit Jared Letos Version gesehen… auch wenn die in SUICIDE SQUAD höchst durchwachsen und die fraglos schlechteste Version bisher war. Nur weil ich erwachsen bin, brauche ich keine „erwachsenen“ Visionen von kindlichen Fantasiefiguren, die blutig Leute töten und in einer realistischen Welt unterwegs sind. Klar braucht es solche Filme auch, und nichts spricht dagegen, sowas in Comic-Universen anzulegen, aber mich reizt das Fantasievolle mehr. Ich gehe stark davon aus, selbst Kram wie GREEN LANTERN, X-MEN 3 oder JUSTICE LEAGUE deutlich öfter zu wiederholen als den ach so ernsten JOKER, selbst wenn ich im Februar sagen mag, dass Phoenix fraglos seinen Oscar verdient.

Und nun?
Müssen wir folgenschwere Entscheidungen treffen? Müssen wir – dem Internet Jargon entsprechend – irgendwelche Leute „canceln“? Müssen wir unser Sehverhalten ändern oder zumindest überdenken? Haben wir vielleicht etwas gelernt, sei es über schnelllebige Internetskandälchen, die heißer gekocht als gegessen werden, über vermeintlich versnobte ältere Semester oder über anmaßend besitzergreifende jüngere? Hilf uns, die Sache sinnvoll umzusetzen.

Autor: Christian Westhus

Ein echter Ostwestfale. Gebürtig aus einer kleinen Doppelstadt, die niemand kennt, studierte Literatur in einer Stadt, die es angeblich nicht gibt (Bielefeld). Arbeitet seit 2006 für BereitsGesehen, schreibt Kritiken und Kolumnen, gehört zum Podcast Team und ist einmal im Monat beim KultKino in Lippstadt zu sehen.

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