Die 100 besten Filme der Dekade

31. Dezember 2019, Christian Westhus

Plätze 85 bis 71: (alphabetisch)


45 Years (2015) | R: Andrew Haigh
Noch so ein emotionales Dilemma: Kate (Charlotte Rampling) und Geoff (Tom Courtenay) stehen kurz vor ihrem 45. Hochzeitstag, planen ein großes Fest, da der 40. Jahrestag wegen Geoffs Herzkrankheit ohne Feier auskommen musste. Passend dazu flattern Neuigkeiten ins Haus, die Geoffs seit knapp 50 Jahren verstorbene Ex-Freundin betreffen. Längst vergessene und angeblich verheilte Narben reißen auf, wenn die Vergangenheit (und wenn vergangene Gefühle) wie eine Flutwelle die Gegenwart durchspülen. Mit diversen „Was wäre gewesen, wenn…“ Fragen stehen 45 Ehejahre plötzlich auf unerwartet wackligen Beinen. Andrew Haighs sorgfältig inszenierter und unerwartet spannender Film lebt ganz zentral von zwei gigantischen Darstellern, die durch Blicke, Gesten und ausgelassene Worte ganze Welten bewegen. Großartig.


Ad Astra: Zu den Sternen – Ad Astra (2019) R: James Gray
Ich persönlich bin immer daran interessiert, wenn kreative, talentierte und/oder unangepasste Filmemacher sind an Genres und Genrestoffen versuchen. Das mag nicht immer aufgehen, hat aber fast immer seinen Reiz. Auf dem Markt ist die Rechnung nicht so einfach, wie James Gray mit „Ad Astra“ erfahren musste. James Gray ist eben James Gray und das Raumfahrt und Science-Fiction Genre eben mit gewissen Erwartungen verknüpft. Noch dazu hat „Ad Astra“ eine kuriose Stellung als eine Fox Produktion, die unmittelbar nach dem Aufkauf durch Disney in die Kinos kam. All das ist für den eigentlichen Film zweitrangig und zeigt doch, wie schwierig und undankbar Wagnisse und Autoren-Authentizität sein können. Brad Pitt spielt einen Mann, einen Sohn, der aus dem emotionalen und gesellschaftlichen Schatten seines Vaters ausbrechen will und dafür an den Rand des Sonnensystems reist. Die Bilder sind gigantisch, manche Passagen ungewöhnlich und dennoch gehört dieser Film fast komplett Brad Pitt auf seiner langen Reise in die Einsamkeit, die ihn dennoch – so es denn gelingt – zurück zum Rest seiner Blutsfamilie bringen soll. Es ist ein Film, der es verdient entdeckt zu werden. (Mehr in der BG Kritik)


Alles was kommt – L’avenir (2016) | R: Mia Hansen-Løve
Die immer großartige Isabelle Huppert, lebende Legende des französischen Films, als Philosophielehrerin, die – nachdem ihr Mann von einer neuen Liebe erzählt – ihr eigenes Leben neu verorten und gestalten will. Dialogintensiv und teils akademisch vergeistigt, darin aber ungemein spannend und vielschichtig. Ruhig und trocken, ja, aber mit jedem weiteren Schritt, den unsere Hauptfigur nicht zuletzt bei der jungen intellektuellen Bauernhof Kommune wagt, entfaltet sich Mia Hansen-Løves Script stärker und offenbart ungeahnte Dimensionen. Hansen-Løve ist wie Richard Linklater und Christopher Nolan eine Vorreiterin im Umgang mit Zeit im Film. Nach sehr zeitgedehnt erzählten Filmen zuvor, offenbar „Alles was kommt“ vielmehr ein gigantisches Davor und ein mögliches Danach an diesem Wendepunkt im Leben der Hauptfigur. Ein Film, auf den man sich einlassen muss … und sollte.


The Duke of Burgundy (2015) | R: Peter Strickland
Peter Strickland ist der fehlende Zwischenschritt von Quentin Tarantino hin zu Guy Maddin. Ein Cineast, ein cineastischer „Retro“ Liebhaber, der seine Inspirationen, Vorbilder und Lieblinge über visuelle und inhaltliche Anspielungen seinem Publikum vermittelt. „Berberian Sound Studio“ mag der offensichtlichere „Film über Filme“ sein, doch „The Duke of Burgundy“ ist Stricklands bisher bestes Stück. Ein traumartiger, aus der Zeit und aus dem Raum gefallener Trip, ein schlafwandlerischer, nie ganz greifbarer und am doch unglaublich realer Ausflug durch eine offenbar ausschließlich von Frauen bevölkerten Welt, in der sich alles um das Verständnis und Sammeln von Insekten, insbesondere Motten und Schmetterlinge dreht. Doch Falter sind nur das zentrale Symbol in einem Reigen aus Bildverweisen und Metaphern. Wir erleben die Beziehung zweier Frauen und das komplizierte Spiel um Nähe, Zuneigung, Opferbereitschaft und Befriedigung. Der Plot einer Beziehung in Schwierigkeiten mag augenscheinlich simpel sein, doch Strickland serviert nicht nur einen erotischen Reigen aus Kostümen und Ausstattung, sondern lädt auch jedes gesprochene Wort und jede noch so kleine Geste mit Bedeutung auf. Wir haben gleich mehrere Motive von Veränderung und Anpassungen, aber auch von Beständigkeit und Unveränderlichkeit. Es sind Strömungen, die scheinbar in dieselbe Richtung führen sollten, irgendwann aber konträr zueinander verlaufen. Ein unmissverständlich als „Kokon“ gedachtes Objekt platziert Strickland in der Handlung und geht doch andere Wege damit. Szenen wiederholen sich aus veränderter Perspektive, so wie sich Gefühle und Bedürfnisse verändern, am Ende aber womöglich doch einen Kreislauf beschreiben, dessen Anfang wir nur schwer festlegen können. Endlos faszinierend und mit der betörenden Musik von „Cat’s Eye“ eine wunderbare Erfahrung. Und das alles noch ohne zu wissen (jetzt kommen die vagen Spoiler), dass der Film bei Erscheinen etwas simplifizierend als Arthouse Variante von „50 Shades“ beschrieben wurde.


Dunkirk (2017) | R: Christopher Nolan
Christopher Nolan und die Relativität von Zeit. „Memento“, „Inception“, „Interstellar“ und nun „Dunkirk“. Während ein Richard Linklater („Boyhood“) Zeit irgendwie fühl- und nachvollziehbar machen will, nutzt Nolan das Kino dazu, Zeitgefühl zu abstrahieren. Dieses Vorhaben ist in „Dunkirk“ vielleicht weniger abstrakt und außergewöhnlich als in vorherigen Filmen, aber womöglich dennoch das bisher tollkühnste Vorhaben dieser Art. Drei Handlungsstränge, zu Land, zu Wasser und in der Luft, kombiniert Nolan zu einem cineastischen Erlebnis, obwohl auf einer Ebene eine Woche vergeht und auf einer anderen Ebene nur eine Stunde. „Dunkirk“ ist bemüht, so unpolitisch zu sein wie möglich. Nur ist das bei der Geschichte der Evakuierung von rund 400.000 britischen und französischen Truppen nur bedingt möglich. Die deutschen Truppen, die aus Hinterhalten, durch U-Boote oder durch Fliegerbomben zuschlagen, sind einfach nur der mehr oder weniger unsichtbare Feind im Hintergrund. Doch die private Mobilmachung in der britischen Heimat, die Rettung Großbritanniens und schließlich die Rückkehr der Soldaten vor dem Hintergrund der berühmten Winston Churchill Rede ist natürlich dennoch eine explizit politische Note – und eine emotionale. Offenbarten (die ebenfalls gelungenen) „Inception“ und „Interstellar“ die dramaturgischen Grenzen im Schaffen Christopher Nolans, ist die Reduzierung in „Dunkirk“ ein großer Trumpf. Von ein, zwei Details abgesehen, kann der Regisseur seine technische Meisterschaft ausspielen und liefert in verblüffender Kausalität eine sogartige Kette gigantischer Spannungssequenzen in technischer Perfektion.


Eighth Grade (2018/19) | R: Bo Burnham
Zeiten ändern sich. Ich bin mit Kabelfernsehen und VHS aufgewachsen und nun war „Eighth Grade“ der erste Film, den ich mangels physikalischer (HD-)Alternativen als digitale Version kaufen musste. Kaufen, nicht billig leihen. (Ich bin alt, will ich damit vielleicht sagen.) Teenagerfilme gibt es wie Sand am Meer. Doch „Eighth Grade“ ist eine Seltenheit. Das liegt zum einen an der Außerordentlichen Qualität des Spielfilmdebüts als Drehbuchautor und Regisseur von Standup-Comedian Bo Burnham. Zum anderen liegt es an der Figur, die Burnham wählt, liegt am Alter seiner Protagonistin Kayla. Zu selten werden junge Teenager mit dem nötigen Ernst (Ernst ist nicht gleichbedeutend mit Humorlosigkeit und tragischsten Umständen) behandelt. Natürlich gibt es Ausnahmen, doch insbesondere das amerikanische Coming of Age Kino unterteilt Teenager ein wenig so wie die deutsche FSK, in 12- und 16-Jährige. Kayla ist noch nicht ganz 14, steht am Ende der Middle Shool, ist schüchtern und unsicher, sehnt sich nach einer ersten Liebe, aber eigentlich nach einer echten Freundschaft, danach, von jemandem komplett akzeptiert zu werden. In dieser Umschreibung klingt das gleichermaßen vertraut wie abgenutzt. Doch „Eighth Grade“ ist ein kleines Wunderwerk, vor dem ein Großteil der Subgenre-Konkurrenz mit Neid erblassen sollte. Obwohl amerikanische Schule und amerikanische Jugendkultur anders ist, obwohl meine eigene 8. Klasse schon eine ganze Weile her ist und obwohl ich selbst dann nie ein 13-jähirges Mädchen war, ist „Eighth Grade“ unfassbar authentisch, ja geradezu schmerzhaft authentisch. Es ist eine andere Generation, doch irgendwie transportiert der Film etwas Universelles. Es kommt mit all dem „Cringe“ daher, den man leider nur zu gut kennt, der aber unvermeidbar ist. Kaylas Weg beinhaltet so manch Niederlage und so manchen Horror, lässt aber irgendwann auch das Herz förmlich beben und bersten. Und „Eighth Grade“ beinhaltet die beste/effektivste/emotionalste „Rick & Morty“ Anspielung, die man sich vorstellen kann. Kein Film braucht es je wieder versuchen.


The Florida Project (2017/18) | R: Sean Baker
Regisseur Sean Baker scheint ein Mann der puren Empathie zu sein. Schon sein Film „Tangerine L.A.“ über zwei Trans-Frauen in Liebesnot war durchzogen von Mitgefühl und auch von Neugierde für einen im Kino selten wirklich (authentisch) behandelten Bereich des (amerikanischen) Lebens. In „The Florida Project“ wirft Baker einen Blick auf Armut in den USA und kreiert damit für lange Zeit einen der herzlichsten und irgendwie auch positivsten Filme unserer Zeit, in dem leise und langsam, aber auch unvermeidlich eine Wehmut und die Ahnung von Unheil und Tragik rückt. Dies gelingt Baker, indem er seine Geschichte aus Kinderaugen erzählt. Die 6-jährige Moonee, herzzerreißend und unfassbar natürlich zu Leben erweckt von Brooklyn Prince, verbringt einen Sommer in einer unterklassigen Motelanlage, ganz in der Näse von Disney World. Und Moonee hat eben nur die ungeübten Augen einer 6-Jährigen, um zu erkennen und zu verstehen, was mit ihrer Mutter Halley los ist und was der kleinen Familie bevorsteht. Ein unbeschreiblich effektiver Drahtseilakt verschiedener Stimmungen.


Gone Girl (2014) | R: David Fincher
Wäre dieser Film nach #MeToo im öffentlichen Diskurs zerrupft worden oder überhaupt möglich gewesen? Unter Regisseur David Fincher adaptiert Gillian Flynn ihren eigenen Roman zu einem elegant und clever verschobenen Thriller, der gleichzeitig ein unbequemer und doch böse unterhaltsamer Abgesang auf das Konzept Ehe ist. „Gone Girl“ ist ein dorniges Ungetüm, was auch heißt, dass jede Besprechung Spoiler beinhaltet. (Soll heißen: wer noch nicht informiert ist, an dieser Stelle das Buch lesen/den Film schauen und dann wiederkommen.) Ehe ist eine Hölle, auf die man sich geeinigt hat, könnte man am Ende schließen. Der Weg dorthin ist stark inszeniert, wunderbar gespielt, aber insbesondere randvoll mit feinen Beobachtungen, Spitzfindigkeiten und Provokationen. Flynn hat für ihr Werk, sowohl Roman als auch Drehbuch, von allen Seiten u.a. auch negative Kritik erhalten. Dabei ist Amy Dunne ein Musterbeispiel, wie flexibel das häufig herbeigewünschte Konzept eines „strong female character“ sein kann. Ein Großteil der Hauptbesetzung besteht aus Frauen und so braucht Amy die Bürde, einzige Repräsentantin ihres Geschlechts zu sein, gar nicht tragen und kann sich so zu einer der spannendsten Film- (und Roman-) Figuren des Jahrzehnts entwickeln.


Guardians of the Galaxy Vol. 2 (2017) | R: James Gunn
Ein anderer MCU Film mag den besten „Flow“ und das größte Actionhighlight der Reihe haben, doch Guardians Vol. 2 ist vermutlich der kompletteste und beste Film an sich, den das MCU hervorgebracht hat. Kein anderer Film der Saga nähert sich derart gezielt und konsequent seinen thematischen Kernpunkten. Kein anderer Film der Saga erspielt sich so komplex und effektiv das emotionale Drama und den mitfühlbaren Charakter seiner Hauptfiguren wie dieser. Guardians Vol. 2 hat mehr über Familie zu sagen als es 25 „Fast and Furious“ Filme je könnten. Peters Arroganz, seine komplizierte Beziehung zu seinen drei (!) Eltern, Egos Auftritt und Plan, Baby Groot als Säugling, Yondu, Rocket usw. Aus persönlichen Gründen trifft der Film mit der wirklich (verhältnismäßig) vielschichtigen und spannend beobachteten Verwicklung von Peter, Rocket, Yondu und Ego einen gewissen Punkt bei mir. Doch Rockets selbstzerstörerische Angst vorm Verlassenwerden und mehr noch die schwierige Geschwisterbeziehung von Gamora und Nebula erreichen mich noch viel besser. Und abgesehen davon ist GotGV2 ein mordsmäßig unterhaltsamer, rasanter, actiongeladener Ritt, der – vielleicht mit Ausnahme von „Black Panther“, nur abzüglich dessen Finale – ganz nebenbei der visuell und gestalterisch aufregendste des MCU ist. Und das Mixtape ist mal wieder 1A!


Magic Mike XXL (2015) | R: Gregory Jacobs
Abgesehen von einem Film über einen pelzigen Marmeladenliebhaber in London der wohl positivste Film der Dekade. Ein Film über Empathie in Theorie und Praxis. Die gesamte Reise der alten Tampa Crew um „Magic“ Mike (Channing Tatum) zu einer Stripper Convention kommt nahezu komplett ohne einen Plot aus. Man will zur Convention, will sich und der Welt noch einmal etwas beweisen, braucht einen MC für die Show, aber einen klassischen Spannungsbogen und ein Finale im Stil gewöhnlicher Sportfilme gibt es hier nicht. Es sind die Episoden, die Vignetten, und die Gespräche dazwischen, die MMXXL zu einem so besonderen Film machen; im Tankstellenshop, in Jada Pinkett Smiths Verwöhnetablissement, bei Andie Macdowell und schließlich auf der Convention. Was Mike und seine Jungs hier tun, sagen und ausdiskutieren ist von vorne bis hinten gestaltet, um sich selbst, einander und den Leuten (insbesondere Frauen), die ihren Weg kreuzen, das Selbstbewusstsein zu stärken, das Selbstwertgefühl zu heben. Es geht nicht um Ego, nicht um Dominanz, ja nicht einmal wirklich um Erotik oder Sex, sondern um ehrliche Emotionen, um Zusammenhalt, Demut und Offenheit, offene Ohren und offene Arme. Das kann man als #PositiveMasculinity bezeichnen, aber die eigentlich „Magie“ dieses Films ist schwer zu beschreiben.


Margaret (2011) | R: Kenneth Lonergan
Die Veröffentlichung von Kenneth Lonergans erst zweiten Film (nach dem erstklassigen „You can count on me“, 2017 folgte „Manchester by the Sea“) war Anfang der Dekade eine der größten Geschichten des amerikanischen Indie- und Autorenkinos. Denn gedreht wurde „Margaret“ schon 2006, war für einen 2007er Release geplant, ehe Lonergan und Fox Searchlight in einen langwierigen und aufreibenden Streit um die finale Schnittfassung gerieten. Martin Scorsese und Cutterin Thelma Schoonmaker halfen, ehe der Film 2011 schließlich erst langsam über erste Preview und oft prominente Mund-zu-Mund Propaganda neues Leben erhielt. So ganz passt „Margaret“ auch nicht in die 2010er. Anna Paquin als Hauptfigur Lisa sagt in einer Schuldebatte, sie möge den aktuellen US-Präsidenten nicht. Wie, Obama? Nein, 2006/07 war das noch W. Bush. Doch andererseits ist „Margaret“ nur noch aktueller geworden, egal ob für 2006, 2011 oder 2020. Getrieben von zahlreichen schulischen, privaten und öffentlichen Debatten über den Krieg im Nahen Osten, über arabische Attentäter, die historische Schuld Amerikas, Grenzen der Meinungsfreiheit und so weiter. Lonergans Meisterschaft liegt in der Konstruktion moralischer Dilemma und in den Dialogen seiner vollends lebendigen Figuren. Lisa wird zentrale Zeugin und vielleicht sogar Mitverursacherin eines tödlichen Verkehrsunfalls und veranstaltet durch diese offene emotionale Wunde einen wilden und ungehemmten „Amoklauf“ teils-naiven spätjugendlichen Idealismus. Lisas unkontrollierter und doch nachvollziehbarer Kampf um und ihre Suche nach Gerechtigkeit und seelischer Linderung findet in ihrem Leben auf vielfältige Weise Angriffsfläche, nicht zuletzt in der schwierigen Beziehung zur eigenen Mutter. Und Anna Paquin gibt mit ihrer emotional schlauchenden Darbietung eine der erinnerungswürdigsten Darbietungen der Dekade.


Mary & Max, oder: schrumpfen Schafe wenn es regnet – Mary and Max (2009. Deutschlandstart 09/2010.) | R: Adam Elliot
Ein australischer Claymation Animationsfilm über eine Brieffreundschaft einer einsamen 8-Jährigen aus Melbourne zu einem übergewichtigen Mann mittleren Alters in New York, der am Asperger Syndrom leidet. Kontinente und Generationen liegen zwischen ihnen, doch über die Briefe, Liebe zu Schokolade und zu einer Reihe Sammelfiguren bauen Mary und Max eine zu Herzen gehende Beziehung auf, ehe das Script die erlebte Zeit dieser Geschichte beschleunigt. Heiter bis trist, auf kuriose Weise witzig und zu Tränen rührend. Das war schon vor knapp zehn Jahren im Kino der Fall und ist seitdem bei mir nicht besser geworden. Im Gegenteil.


Nymphomaniac (Vol 1 + 2) (2014) | R: Lars von Trier
Es ist im Laufe der Jahre nicht einfacher geworden, Lars von Trier und seine Filme zu mögen und zu unterstützen. Unabhängig vom privaten Verhalten des äußerst exzentrischen Dänen ist auch „Nymphomaniac“ zweigeteilt auf vier (oder im Director’s Cut fünfeinhalb) Stunden all das, was man an Von Trier liebt oder hasst. Oder hasst zu lieben. Oder liebt zu hassen. Es ist all das, was manche Stimmen dem Regisseur schon immer vorgeworfen haben und mehr. Eine provokative, plumpe, selbstgefällige, prätentiöse, abscheuliche, sexistische, hasserfüllte, krankhafte, ekelerregende und zum Himmel stinkende Angelegenheit, die einfach niemand sonst auf diesem Planeten derart verführerisch, stimulierend, faszinierend und packend inszenieren kann. Ist Teil 1 noch getrieben von vermeintlich „unschuldiger“ jugendlicher Lust und einer entwaffnenden Komik, holt der gute Lars in Teil 2 die, äh, Peitsche raus. Und mehr. Es wimmelt vor einzigartigen Ideen, spannenden Ansätzen und kontroversen Anregungen. Es ist nicht einfach, Lars von Trier und seine Filme noch immer zu mögen. Vielleicht ist es daher irgendwie ganz praktisch, dass dieser Film wie ein Adieu wirkt, wie eine kackendreiste, höchst alberne und gewalthaft selbstbemitleidende Rückschau des Filmemachers auf sein eigenes Werk und Leben, durchzogen von Anspielungen, Querverweisen und Wiederholungen. Es ist Lars von Trier pur. Kein Destillat, sondern ein randvoller Bottich mit blubbernden Film-Ideen, die niemand sonst so versuchen würde. Ob man am Ende denkt, man hätte es mit manchen Ideen schlicht sein lassen sollen, bleibt jedem selbst überlassen.


Silence (2016) | R: Martin Scorsese
Als Zuschauer tun wir uns mit Nuancen oft schwer, wie es scheint. Anders ist die oft widersprüchliche Rezeption mancher Filme nicht zu erklären. Martin Scorsese musste das in dieser Dekade gleich doppelt (kommen wir noch drauf zurück) erleben. Scorsese ist ein gläubiger Mensch. Natürlich ist „Silence“ daher keine einseitige Verteufelung des christlichen Glaubens, wie sich das vielleicht manche bei einem Film über Missionsarbeit in Japan gewünscht hätten. Es ist aber auch nicht im Geringsten ein „seht nur, wie diese frommen Christen leiden“ Film. Scorsese ist ein Meister der Perspektive, ein Meister der Subjektivität. In „Silence“ sehen wir Missionare, die sich mit kulturellem Unwissen und großer Naivität aufmachen, ein Land umzukrempeln. Denn natürlich sind die Missionare in gewisser Weise Invasoren. Schon wie Scorsese mit Sprache umgeht, welche Personen welche Sprachen sprechen und warum, teilt uns so unfassbar viel mit. Und auf der Gegenseite der sadistische und brutale Isolationsdrang der Japaner, die mit allen Mitteln gegen das christliche Fremde vorgehen. Ein Film und eine Situation viel zu komplex für einen so kurzen Text. „Silence“ ist langwierig, hart, schonungslos und auf vielfältige Weise schwierig. Aber es ist auch ein grandios entworfener Film in kraftvoll gestalteten Bildern. Intensiv.


Taxi Teheran – Taxi (تاکسی‎) (2015) | R: Jafar Panahi
Manche Filme lassen sich schlecht im totalen Vakuum schauen: Der iranische Regisseur Jafar Panahi wurde 2010 wegen „Propaganda gegen das System“ verhaftet und anschließend zu einem 20-jährigen Berufs- und Ausreiseverbot verurteilt. Zumindest diese groben Informationen sollte man kennen, sieht man Filmemacher Panahi als Taxifahrer durch Teheran fahren und nimmt daran teil, wie er in angeblicher Doku-Manier teils wahre und doch inszenierte Alltagsszenen in sein Gefährt holt. Zu Beginn noch locker, gar komödiantisch und mit unterschwelligen Anreizen zu „größeren“ Themen, wird Panahi im weiteren Verlauf deutlicher, verliert aber nie eine gewisse Selbstironie. Es geht um Verbrechen, die Macht der Kamera, politische Zensur und die vermeintliche simple Wahrheit, dass die besten Geschichten aus dem Leben gegriffen sind. „This is not a Film“ (2011) mag durch seine Entstehungs- und Veröffentlichungsgeschichte der wichtigere Film sein, doch „Taxi Teheran“ ist ähnlich engagiert, facettenreicher und – so seltsam das klingen mag – unterhaltsamer. (Und die Situation ist noch immer aktuell. Juristin und Menschenrechtsaktivistin Nasrin Sotoudeh, die sich hier praktisch selbst spielt, wurde 2019 zu 33 Jahren Haft verurteilt.)

Einleitung | Plätze 100 bis 86 | 85 bis 71 | 70 bis 56 | 55 bis 41 | 40 bis 26 | 25 bis 11 | Top 10

Autor: Christian Westhus

Ein echter Ostwestfale. Gebürtig aus einer kleinen Doppelstadt, die niemand kennt, studierte Literatur in einer Stadt, die es angeblich nicht gibt (Bielefeld). Arbeitet seit 2006 für BereitsGesehen, schreibt Kritiken und Kolumnen, gehört zum Podcast Team und ist einmal im Monat beim KultKino in Lippstadt zu sehen.

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