Die 100 besten Filme der Dekade
Die Top 10 der besten Filme der Dekade 2010 bis 2019:
10
Paterson (2016) | R: Jim Jarmusch
Vielleicht der Film, der mich in seiner Platzierung am meisten überrascht. Doch „Paterson“ gehört unweigerlich hierher. Schon bei der Erstsichtung im Kino hatte mich Jim Jarmuschs vermeintlich banale, aber in Wahrheit unermesslich tiefe und authentische Alltags- und Beziehungspoesie enorm ergriffen und beschäftigt. Damals stand der Film nur noch ein wenig im Schatten des vorherigen Jarmusch Films „Only Lovers Left Alive“ (siehe vorige Seite), da ich mich über diesen zünftig mit „jemandem“ (*räusper) streiten konnte. Doch nach Zweit- und Drittsichtungen ist „Paterson“ auf leisen und entspannten Sohlen emporgestiegen. Die Besonderheit und Magie des Films, in dem Adam Driver einen Mann namens Paterson spielt, der in der Stadt Paterson Busfahrer ist, in seiner Freizeit Gedichte schreibt und mit seiner ebenfalls kreativen Freundin ein hübsches kleines Haus inklusive Hund bewohnt, kann man nur schwer in Worte fassen und beschreiben. Jarmuschs unterkühlt-trockener und zuweilen exzentrischer Stil reichte in der Vergangenheit zumeist „nur“ zu bewundertem Interesse und eher nüchterner Neugierde. Nach zwei Volltreffern hintereinander ist das nun anders. Es ist der Beweis einer künstlerischen Meisterschaft, zumindest in meinen Augen, einen Film wie diesen zu machen, so unscheinbar, ruhig und simpel, der sich derart emotional festsetzt und ausbreitet. „Paterson“ ist, wie alle Top-10er, ein so genannter All Timer geworden. Und die Szene mit dem Briefkasten gehört immer noch, rein gefühlsmäßig, zu den größten Lachern des Jahrzehnts für mich. (Und die „Moonrise Kingdom“ Reunion ist auch nett.)
09
Die Taschendiebin – Ah-ga-ssi (아가씨) (2016/17) | R: Park Chan-wook
Das koreanische Kino des 21. Jahrhunderts ist unfassbar. Manche Hintergründe der heimischen Filmindustrie können erklären, wie in den Anfangsjahren ein finanziell „gesichertes“ (mehr oder weniger) Umfeld für Filme und ihre Macher geschaffen wurden. Ein internationaler Erfolg wie damals „Oldboy“ kann natürlich Türen öffnen. Und vielleicht trafen hier mit Leuten wie Bong Joon-ho, Lee Chan-dong, Kim Ki-duk, Kim Ji-woon und eben Park Chan-wook gleich mehrere hochtalentierte Leute gleichzeitig aufeinander, vielleicht nicht unähnlich dem deutschen Film Ende der 60er/Anfang der 70er. Diese geschlossene Kreativität und Qualität ist dennoch unfassbar. Und Park Chan-wook dürfte mit diesem Film mindestens sein eigenes größtes Meisterwerk abgeliefert haben. Ein in Form und Inhalt überbordendes Werk, gleichermaßen irrsinnig, rauschhaft, verrückt und doch zärtlich, emphatisch und grenzenlos emotional. Die Geschichte einer jungen Frau, die im von Japan besetzten Korea als Spionin an den Hof eines Mannes und einer reichen Erbin geschickt wird. Was dann folgt lebt nicht zuletzt von seinen Geheimnissen, von gleich mehreren Wendungen und Offenbarungen, aber auch von grandiosen Darstellern und eben einem wahnsinnigen Park Chan-wook auf der Höhe seines Schaffens. In Stil, Inhalt und Wirkungsgrat ein Meisterwerk. Der Satz mag austauschbar klingen, doch hier ist er absolut zutreffend: „Die Taschendiebin“ ist pures Kino!
08
Mommy (2014) | R: Xavier Dolan
Das kanadische Regiewunderkind und Teilzeit-Enfant Terrible Xavier Dolan war erst verbotene 25 Jahre jung als „Mommy“ erschien. Noch schlimmer: Dolan hatte zuvor schon ganze vier ausdrucksstarke, kreative und hochemotionale Filme gemacht, bei denen er jeweils auch Regisseur, Autor, Kostümdesigner und zum Teil auch Cutter und Koproduzent war. In drei Filmen spielte er zudem die Hauptrolle. Ugh, chill, Xavier! „Mommy“ ist bisher der (ja, für mich) unbestreitbare Höhepunkt in Dolans Schaffen. Der junge Steve (Antoine-Olivier Pilon) kehrt aus einem Erziehungsheim zurück zu seiner alleinerziehenden Mutter (Anne Dorval). Doch Steves Phasen aus jugendlichem Trotz, unfassbarer Aggressivität und gelegentlicher Sanftheit gestalten das Mutter-Sohn-Verhältnis weiterhin schwierig. Erst eine Nachbarin (Suzanne Clément) kann beiden für eine Weile Annäherung und Beruhigung verschaffen. Dolans Script sticht tief und brutal in die offene Wunde einer emotionsgeladenen Beziehung. Er peitscht seine drei (durchweg immensen!) Darsteller zu wahnsinnigen und auch oft lautstarken Darbietungen an. Doch Dolan kann nicht „nur“ schreiben und Darsteller führen, er hat auch ein unglaubliches Gespür für Bilder, sei es der Einsatz von Licht und Farbe oder der Umgang mit den Seitenverhältnissen des Bildes, der mindestens einmal den Atem stillstehen lassen wird. Und dann die Musik. Eine Szene zu Céline Dion lässt schon einmal das Herz brechen. Und dann kommt Komponist Ludovico Einaudi und zerreißt es mit Dolans Hilfe ganz. Ich meine; dieser Film hat „Wonderwall“ wieder cool gemacht, so unvorstellbar effektiv genutzt, und das so stark, dass kein Film das Lied jemals wieder zu verwenden braucht.
07
The Social Network (2010) | R: David Fincher
Klar, in gewisser Weise war dieser Film ähnlich voreilig, eine abgeschlossene Geschichte erzählen zu wollen, wie die Harry Potter Reihe. Dort waren es noch unveröffentlichte Romanvorlagen, hier war es die weitere Entwicklung von Facebook, Mark Zuckerberg und der Sozialen Netzwerke als gefährliche Spielwiese aktueller Politik. All das fehlt in David Finchers Film nach einem glühend heißen Drehbuch von Aaron Sorkin. Das „Du bist kein Arschloch“ Ende wirkt im Jahr 2019 nicht mehr so, wie es 2010 gewirkt hatte. Und dennoch kann der Film dieses Problem irgendwie bewältigen, funktioniert noch immer (und vielleicht sogar noch besser!) als quasi-fiktiver aber realitätsnaher Blick auf einen ungemein signifikanten Moment in der Entwicklung des 21. Jahrhunderts. Mit gekränktem männlichen Stolz, wütendem Programmieren und weißer Schrift an einer Fensterscheibe erleben wir den Ground Zero des modernen Kommunikationszeitalters. Es ist möglich, dass Aaron Sorkin noch bessere Drehbücher geschrieben hat (wobei dieses sensationell ist); Argumente für „ Steve Jobs“ werden zugelassen. Unbestreitbar ist, dass Sorkin nie einen besseren Regisseur für eine seiner Geschichten hatte. Mit grandiosen Darstellern, einem sensationellen Schnitt und einem bemerkenswert effektiven Score „schnurrt“ „The Social Network“ wie kaum ein anderer Film. Es ist nahezu perfektes Filmemachen. Und dass wir auch 2020 überhaupt noch signifikante Gespräche über den Inhalt führen können, ist keineswegs ein schlechtes Zeichen. Zumindest nicht für den Film…
06
Nader und Simin: Eine Trennung – Jodaeiye Nader az Simin (جدایی نادر از سیمین) (2011) | R: Asghar Farhadi
Kino kann für zahlreiche Dinge gut sein. Darunter fällt u.a. die „Empathieschule“, sozusagen, wenn man am Drama anderer Leute teilnimmt. Oder aber man erhält durchs Kino Einblick in fremde Welten und Kulturen. Diese beiden Elemente bietet „Nader und Simin“ in Perfektion. Asghar Farhadis vielfach ausgezeichnetes Ehedrama ist konstruiert wie ein meisterhaftes Bühnenstück, natürlich speziell kulturell geprägt und doch letztendlich universell. Menschen machen Fehler, doch Farhadis Script ist besonders gut darin, die vielschichtige Problematik in der Beziehung von Nader und Simin herauszustellen. Wir können beide Seiten nachvollziehen, lernen die Situation mit dem kranken Vater und mit der jungen Tochter kennen, sind dabei, wenn ein vermeintliches Missverständnis mit anderen Figuren eskaliert. Diese Liste besteht aus vielen „kleinen“ Filmen über menschliche Dramen. Und dieser gehört zu den allerbesten.
05
Paddington 2 (2017) | R: Paul King
Der erste „Paddington“ war ein sehr guter, wohlig angenehmer, herzensguter und unterhaltsamer Familienfilm. Diese Fortsetzung ist in allen Bereichen mindestens eine Klasse besser. (Nein, ich kann mir das auch nicht erklären.) „Paddington 2“ besitzt nicht nur eine liebenswürdige Hauptfigur und wundervolle Familien-/Nebenfiguren, einen elegant konstruierten Plot mit einem göttlichen Hugh Grant als Gegenspieler, Slapstick- und Actionmomente zum Niederknien, sondern auch mehr Herz und Güte als ein Film alleine eigentlich haben kann. Allein die Gefängnissequenz (ja, „Paddington 2“ hat eine ausgedehnte Gefängnissequenz) ist sensationell genug, um den Film zu einem Highlight zu machen. Der Film ist so gut, wie Paddingtons Marmelade zu schmecken scheint. In seiner simplen und doch vollkommen klaren und unmissverständlichen Gesinnung vielleicht einer der hilfreichsten und schönsten Filme überhaupt. „If you’re kind and polite, the world will be right.“
04
Under the Skin (2014) | R: Jonathan Glazer
Jonathan Glazer („Sexy Beast“, „Birth“) dreht zu wenige Filme. Aber offenbar braucht er diese Zeit, um die Qualität zu erreichen, denn „Under the Skin“ ist ein bizarres und außergewöhnliches Meisterwerk. Unmöglich zu beschreiben, muss man die einzigartigen Bild- und Tonwelten des Films selbst erleben, muss Scarlett Johansson in teils „Guerilla“ gedrehten Sequenzen als Quasi-Alien durch Schottland folgen, wie sie Männer anlockt, um mit ihnen … nun, Beschreibungen erfüllen irgendwann keinen Zweck mehr. „Under the Skin“ ist ein Kunstwerk, eine raue, ungemütlich, aber doch auch irgendwie ätherisch schöne Angelegenheit, wie Mica Levis Musik, die bizarren Effekte und das urplötzlich emotional aufgeladene Finale. Filme wie diesen gibt es quasi nicht. Daher sollte man sie erfahren … und unterstützen.
03
The Master (2013) | R: Paul Thomas Anderson
Es bringt eigentlich nicht viel, einzelne Filmschaffende mit Superlativen zu überschütten, sie zu den besten Irgendwas zu ernennen. Doch angesichts dieser regelmäßigen und gewaltigen Qualität, die Paul Thomas Anderson wieder und wieder unter Beweis stellt, ist man dennoch geneigt, ihn zum besten amerikanischen Filmemacher seiner Generation zu erklären. Mal wieder nur so ein Gefühl. Und ja, natürlich dreht Anderson diese Filme nicht alleine. Vor und hinter der Kamera leisten hunderte und tausende Menschen Beachtliches. Vor der Kamera versammelt Anderson hier gigantische Schauspielqualität mit dem leider verstorbenen Philip Seymour Hoffman, Joaquin Phoenix, Amy Adams, Jesse Plemons u.a. Im Vorfeld wurde groß darüber gesprochen, „The Master“ stelle eine Variation zur Entstehung von Scientology dar. In der Inspiration und in manchen Details mag das zutreffen, doch der eigentliche Film ist – ähnlich wie „Der seidene Faden“ als Beziehungsdrama – um ein Vielfaches komplexer und interessanter. Man weiß gar nicht wo man anfangen soll bei diesem hyperselbstbewusst gemachten Film, dem Kraft, Stil und Können aus jeder Pore dringt. Marineveteran Freddie (Phoenix) kehrt desillusioniert, ausgebrannt und perspektivlos in die Heimat zurück, verfällt in Einsamkeit und Alkoholismus, gerät dann an Autor und spirituellen Führer Lancaster Dodd. Sei es die erste Interviewsequenz, ein Motorradausflug in der Wüste oder die größeren Risse, die in die Beziehung von Freddie und Lancaster dringen, „The Master“ ist zu jedem Augenblick unbeschreiblich spannend, in seinen Figuren und ihren Motivationen komplex. Die beiden Männer verbindet mehr, so haben wir jedenfalls das Gefühl, als sie zugeben wollen. Anderson und sein Team holen das absolute Maximum aus jeder Interaktion heraus, doch wie dies geschieht fällt natürlich irgendwann unter Spoiler. Soll heißen: diesen Film sollte man sich ansehen. Mindestens jeder „Joker“ Fan.
02
Mad Max: Fury Road (2015) | R: George Miller
Muss man zu diesem Film noch etwas sagen? Wegen problematischer Dreharbeiten und Verzögerungen rechnete alle Welt mit einer mittelschweren Katastrophe, als George Miller eine verspätete Fortsetzung von „Mad Max“ anging. Und dann wurden wir Zeuge von „Fury Road“, dem besten, einflussreichsten und einfach coolsten Actionfilm mindestens seit „Matrix“, der nicht nur Action, Speed und Explosionen bietet, sondern in seiner super-clever kondensierten Handlung mehr über seine Welt, die Figuren, ihre Taten und Motivationen zu sagen hat, als manche Leute zugeben wollen. Witness me!
01
Frances Ha (2013) | R: Noah Baumbach
Am Ende läuft es doch auf etwas durch und durch Subjektives hinaus. „Frances Ha“ hat als tragikomisches Selbstfindungsdrama einer Mitt-Zwanzigerin mit kreativen/künstlerischen Ambitionen ausreichend Qualitäten, um problemlos auf dieser Liste zu landen. Dass die etwas schusselige, chaotische, gut meinende und doch sich immerzu selbst bremsende Frances nun die Nummer 1 dieser Liste geworden ist, kann ich – mehr als das ohnehin schon immer der Fall ist – nur über mich selbst erklären und begründen. Es war beim Kinobesuch damals einfach perfektes Timing, wie Figuren und Handlung sich in mir spiegelten. Doch erneute Sichtungen danach hielten diesem subjektiven Ersteindruck Stand, vertieften die Verbindung zu diesem Film nur noch weiter. Vermutlich ist es nicht nur Frances‘ Selbstverwirklichungsstreben, sondern mindestens gleichwertig die damit verbundene Beziehung zur besten Freundin. Überhaupt ist „Frances Ha“ einer der besten Filme über Freundschaft; irgendwie bittersüß, wehmütig und authentisch. Manchmal kann man nicht erklären, warum man sich in einen Film verliebt. Muss man vielleicht auch nicht. Man muss es einfach genießen.
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