BG Kritik: „Tiger King“ Staffel 2

18. November 2021, Christian Mester

„Tiger King“ auf Netflix gehörte im letzten Jahr weltweit zu den meistdiskutierten Dokuserien überhaupt, und das irgendwie auch zu Recht. Die kaum zu glaubende Geschichte um den exzentrischen Zoobesitzer / Countrysänger / Präsidentschaftskandidaten / Waffennarr / Zauberer / Polizist / Stripper und All American Showman Joe Exotic entfaltete sich mit immer neuen völlig unglaublichen Offenbarungen und Andeutungen, mit einer Soapqualität, wie man sie selbst in fiktiven Serien selten vorfindet.

Da war zum Beispiel die Geschichte der langjährigen Konkurrentin Carole Baskin, die einen anderen Zoo leitet und sich seit Jahren gegen den privaten Besitz von Großkatzen ausspricht (um dann als einzige einen haben zu dürfen, weil nur ihrer als Wildreservat zählt, obwohl sie genau so Gäste empfängt wie alle anderen und auch keine vorbildlicheren Gehege hat)(und deren Ehemann übrigens auf mysteriöse Weise verschollen ist, wahrscheinlich an Tiger verfüttert) und die Exotic vorwirft, einen (nicht sonderlich) professionellen Auftragsmörder engagiert zu haben – wofür Exotic letzten Endes für 22 Jahre ins Gefängnis geschickt wurde.

© Netflix – Trailerscreenshot https://youtu.be/pT4NYto3abM

Um es direkt vorweg zu nehmen: Staffel 2 hat keine so auffälligen Twists oder Schicksalsmomente wie die erste. Weder kommt Joe Exotic plötzlich frei, noch wird Carole Baskins‘ verschollener Mann gefunden, noch gibt es andere nennenswerte Enthüllungen.

Was also wird gezeigt? Zum Teil wird berichtet, welchen Effekt die Sensation der Serie auf Beteiligte wie die ehemaligen Tierpfleger hatte, die seitdem strahlend Autogramme geben können, dann geht es um Versuche von hoffnungsvollen Joe Exotic Fans, eine Präsidentenbegnadigung von Donald Trump zu erzielen; weiterhin werden Ermittlungsversuche gezeigt, das Verschwinden von Baskins‘ Mann weiter zu verfolgen. ‚Cool Cats and Kittens‘ Baskin selbst kommt ständig vor, allerdings nur in alten Aufnahmen; Exotic ist via Telefonaufnahmen aus dem Gefängnis zu hören, in denen er natürlich beteuert, unschuldig zu sein.

In Sachen American Nonsense gibt es wieder allerhand amüsante Darstellungen, wie etwa einen Mann mit selbsternannten übernatürlichen Fähigkeiten, der ins Gebüsch kotzt und empathisch einen Mord aufzuklären versucht, einen Youtube Ermittler, der sich Ripper nennt und einem echten Anwalt vorgezogen wird, die Tatsache, dass Fans Joe Exotic mit einer überlangen Limousine aus dem Gefängnis abholen wollten, eine Szene, in der Analbleiche besprochen wird oder den Plan eines Konkurrenten, einen Stripclub inmitten seines Zoos zu bauen, damit gewünschte Gäste wie Basketballer Shaquille O’Neill neben Stripperinnen auch gleichzeitig Tiger betrachten können.

Was aber natürlich fehlt, ist Exotic selbst. In Archivaufnahmen wird er immer mal wieder gezeigt, aber die erste Staffel wurde gerade durch ihn selbst so sehenswert, weil er ein ausgesprochen seltsamer Vogel ist, der zwar teilweise ungebildet, selbstverliebt, naiv, größenwahnsinnig, tyrannisch und kontrollsüchtig auftritt, aber auch eine extrem kindliche Naivität aufweist, eine sensible und oft verletzte Seele zu sein scheint, trotz allem unendlichen Optimismus und Showmanship ausstrahlt und mit all dem unweigerlich als Figur seiner Dokuserie charismatisch erschien.

Die Macher sorgen zwar wieder dafür, dass die sicherlich gewaltige Menge an gefilmtem Material kurzweilig und flott präsentiert wird, aber trotz aller Schnittkünste bleibt nicht aus, dass es inhaltlich einfach nicht mehr so viel abzugrasen gab, zumal die Originalität des Ganzen mittlerweile auch futsch weg ist. Hatte die erste Staffel noch oftmals Investigativcharakter mit sichtlichem Rechercheaufwand a la „Making a Murderer“, kommt in der zweiten leider vor allem reine Spekulation vor.

Schade ist natürlich, dass es nach wie vor keine treibende Kraft gibt, die sich für die meistens schlecht gehaltenen und ausgebeuteten Wildkatzen einsetzt.

Fazit:

Wer die erste Staffel als seltsame Mischung aus Freak Show, Reality Soap und True Crime sehenswert fand und heut noch neugierig sein mag, wie es danach wohl weitergegangen ist, sollte seine Erwartungen besser drosseln. Staffel 2 kann in keinster Form mit der ersten mithalten, was Enthüllungen, dramatische und schiere WTF Momente betrifft – dafür war das meiste im Grunde schon erzählt. S2 wirkt daher eher wie eine Sammlung geschnittener Szenen oder Blu-ray Bonusfeatures. Wer das erwartet, darf sich auf zwar kleinen, aber weiteren wunderbaren Irrsinn freuen.

51 Kommentare

Autor: Christian Mester

Dieser Filmenthusiast (*1982) liebt es, manchmal auch mit Blödsinn, Leute für Filme zu begeistern. Hat BG im Jahr 2004 gegründet und ist dann für Pressevorstellungen, Interviews und Premieren viel rumgereist, hat als Redakteur u.a. für GameStar geschrieben, war dann mal Projektleiter in einer Werbeagentur mit Schwerpunkt dt, Kinostarts und - schaut gerad vermutlich schon wieder was.

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