Das Phantom der Oper, Hamilton und die Faszination „unerreichbarer“ Kunst

24. April 2020, Christian Westhus

Wozu sonst ist Social Media gut, wenn nicht dazu, mich auf eine spannende Seh-Gelegenheit aufmerksam zu machen. Über Twitter hieß es, die gemeinnützige amerikanische Actors Fund Organisation würde über den Kanal The Show Must Go On eine Aufführung von Andrew Lloyd Webbers „Phantom of the Opera“ in einer Spendenaktion zur Verfügung stellen. Für 48 Stunden war man nur einen Klick entfernt, um die 2011er Aufführung in der legendären Londoner Royal Albert Hall zum 25. Bühnenjubiläum des Musicals zu sehen, mit Ramin Karimloo und Sierra Bogges in den Hauptrollen als Phantom und Christine. Dem bin ich natürlich nachgekommen. Am Freitagabend um 20 Uhr war die Premiere und laut YT-Angaben waren gut 200.000 Leute live dabei. Die Spendenzahlen schnellten in die Höhe und der Live-Event typische Chat war schlicht zu schnell, um irgendetwas zu lesen, darin fast ausschließlich Herz- und Applaus Emojis, tausende Reaktionen in einem guten Dutzend Sprachen und Schriften. (Übrigens: heute, am 24. April, wird die angeblich „trashige“ Fortsetzung „Love Never Dies“ ausgestrahlt.)

Wenn ein Filmfan, Bühnenmusicals sehen will

© Royal Albert Hall

Unabhängig von der Qualität des Stücks (die groß ist) war dieses Live-Event bei YouTube ein Element, welches der Live Natur eines Bühnenmusicals ein stückweit näher kommt. Und doch ist es natürlich nicht dasselbe. Ich sitze wahlweise am Rechner oder auf meiner Couch vor dem Fernseher, kann ggfs. pausieren, wenn mal die Blase drückt. So erfrischend die grenzenlose Fan-Euphorie im Chat war, blendet man sie doch schnell aus und sind es eben doch nur Bilder und Textfragmente, die über den Bildschirm flitzen. Man war live in einem Seherlebnis und in einer Reaktion darauf vereint, doch im Prinzip ist es nicht anders wie Twitter Diskurs nach einer neuen Ausstrahlung von The Masked Singer. Oder?

Mittlerweile bieten viele Kinos auch in Deutschland Bühnenevents an. Liveübertragungen der größten Weltbühnen in Oper, Theater, Musical und Ballett. Das ist ein spannender und in heutiger Zeit nur logischer (und lohnender) Service, doch dasselbe ist es nicht. Es entspricht nicht dem direkten und unmittelbaren Gefühl, wirklich vor Ort im selben Theater mit diesen Künstlern zu sein, die sprichwörtliche „gleiche Luft“ wie diese zu atmen. Gerade eine Geschichte wie „Phantom of the Opera“, welches Bühne und Theater als zentralen Handlungsort innerhalb der eigenen Geschichte hat, verliert durch eine Multi-Kamera Aufzeichnung wie diese immer. Entscheidender noch in diesem Fall: die Aufführung ist gut neun Jahre alt. Das Licht alter Sterne. Diese Sänger und Tänzer auf der Bühne haben nicht gerade erst live performt.

Es liegt in der Natur der Sache, dass Bühnenevents immerzu einmalige und nicht exakt wiederholbare Ereignisse sind. Selbst innerhalb einer Musicaltour unter den so gut es geht gleichen Bedingungen mit der exakt gleichen Besetzung ist nicht ein einziger Abend wirklich identisch mit einem anderen. Bühnenevents sind eben an eine Bühne gebunden und durch diese an einen Ort. Ist ein Theaterstück, ein Musical oder Show-Event erfolgreich genug, geht es damit vielleicht auf Tour, vielleicht sogar durch verschiedene Länder, und doch sind Angebot und Städteauswahl begrenzt. Nur die wenigstens Stücke können dabei auf eine so andauernde Präsenz zurückblicken wie eben „Phantom of the Opera“, doch selbst dort ist in gut 30 Jahren nicht alles gleich geblieben. Natürlich nicht. Alle paar Jahre verändern sich Besetzung, Produktion, Regie und damit ein Großteil der Aufmachung, des Klangs, des Gefühls des Stücks. Es ist immer „Phantom of the Opera“, aber eben nicht identisch. Wer das Glück (und das Geld) hat, z.B. in London oder New York zu leben, um alle paar Jahre mal die neue Garde zu begutachten, ist im Phantom-Fandom womöglich heiß und innig in Diskussionen vertieft, wo zwischen Karimloo, Boggess, Colm Wilkinson, Sarah Brightman oder Michael Crawford die entscheidenden Qualitäts- und Interpretationsunterschiede liegen. (Einig ist man sich offenbar nur, dass der Film mit Gerard Butler eine mittelschwere Katastrophe war.)

Irgendwann ist der Reiz eines Bühnenstücks vorbei, eben ausgereizt. Wie gesagt, ein „Run“ wie bei „Phantom“ oder „Les Misérables“ ist ausgesprochen selten. Dann war es das mit Bühnenauftritten, mit einer Tour, mit der Möglichkeit, an dieser Kunstdarbietung teilzunehmen. Hat man Glück – auch das setzt schon einen Grunderfolg voraus – entsteht eine professionelle Filmaufnahme, wie eben diese in der Royal Albert Hall. So eine Filmperformance friert eine – von hunderten und vielleicht tausenden – Aufführung digital oder auf Zelluloid ein. Von nun an und unendlich weiter wird diese Aufzeichnung die einzige Möglichkeit sein, dieses Werk kennen zu lernen und daran teilzunehmen. (Und all dies ignoriert natürlich den Fakt, dass internationale Produktionen nicht mal eben so zu übersetzen sind. Das deutsche „Phantom der Oper“ ist noch einmal ein ganz eigener Fall mit ganz eigener Besetzung und Interpretationen, noch viel stärker als eine Synchronisation beim Film.)

Natürlich ist all dies bis zu einem gewissen Punkt unvermeidbar. Es wäre absurd, der verpassten Chance nachzutrauern, Erstaufführungen von Shakespeare, Ibsen oder Brecht verpasst zu haben. So gerne man (ich) die originale Julie Andrews als Eliza Doolittle in „My Fair Lady“ auf der Bühne gesehen hätte, war es einfach gleich mehrere Jahrzehnte vor meiner Zeit und wiegt daher weniger schwer. Doch aktuelle Hypes und Erfolgsfälle? Da will man dabei sein. Dennoch geht eine eigenartige Faszination aus von vermeintlich schwer oder unerreichbaren Werken, von unerreichbarer Kunst. Auch das hat irgendwie Social Media zu verschulden, wenn internationale Bühnenereignisse ganz „nah“ herangeholt werden. Gerade weil es so viele Berührungspunkte zwischen Musical, Theater und Film gibt, weil so viele Geschichten in die eine oder andere Richtung adaptiert werden, weil Darsteller regelmäßig zwischen beiden Welten wechseln, wirkt die Unerreichbarkeit eines neuen Hit-Musicals für einen Filmfan deutlich schwerer als z.B. die Unerreichbarkeit eines Konzerts, eines bildhauerischen Kunstwerks oder eines historischen Monuments. Veranstaltungen wie Coachella, Burning Man oder Mardi Gras sind eher verwandt mit theoretischen Urlaubszielen, die man auf seiner „Bucket List“ stehen hat. Doch wer bucht schon extra einen New York Urlaub, „nur“ um „Hamilton“ am Broadway zu sehen? Und selbst wenn, sogar New Yorker warten teils seit Monaten oder gar Jahren auf (bezahlbare) Tickets, da so ein Hitmusical gerne mal dauerhaft ausverkauft ist. Da gilt es für den deutschen Musicalfan so viele finanzielle und logistische Feinheiten abzustimmen, dass es eben einer kleinen Unmöglichkeit nahe kommt.

Hamilton: Not throwing away my shot

© Disney

Für diesen Autor war „Hamilton“ im Zuge seiner hyper-erfolgreichen Premiere 2015 das Bühnenereignis, welches diese Diskrepanz besonders deutlich machte. Natürlich gab es auch zuvor interessante Ereignisse, die man aus der Ferne beobachtete, sei es „The Book of Mormon“ von den „South Park“ Erfindern Trey Parker und Matt Stone, oder die faszinierende Halbkatastrophe namens „Spider-Man: Turn off the Dark“. Doch es war das kulturelle Beben namens „Hamilton“, welches Sehnsüchte nach größerer Erreichbarkeit weckte. Für ein gutes Jahr sprach jeder amerikanische Popkultur Podcast und jedes Outlet über „Hamilton“ und Macher (Autor, Texter, Komponist und Hauptdarsteller) Lin-Manuel Miranda, der seitdem auch in der Filmwelt vermehrt auftauchte, sei es als Songschreiber für „Moana“/„Vaiana“ oder als Nebendarsteller im neuen „Mary Poppins“, ehe irgendwann bald (ach ja, Corona) die echte Film-Adaption seines älteren Bühnenwerks „In the Heights“ ins Kino kommen soll.

„Hamilton“ nimmt sich der biographischen Geschichte von US-Gründervater Alexander Hamilton an und erzählt diese als mitreißendes Rap-, Soul- und R&B-Musical. Zusätzlich gestaltete Miranda, dessen Eltern aus Puerto Rico stammen, seine Originalbesetzung für die Geschichte der weißen Gründungsväter der Vereinigten Staaten explizit „bunt“, mit afroamerikanischen, Latinx, asiatischen und karibischen Darstellern in den Hauptrollen. Während ein Barack Obama seinen letzten Jahren im Weißen Haus entgegen blickte, wurde ein Musical über politische Aufstiege, Untergänge und Verschwörungen aus den Gründungsjahren der USA zu einem gewaltigen Erfolg; immense Ticketverkäufe, CD-Verkaufszahlen, ein knappes Dutzend Tonys, Grammys und ein Pulitzer Preis waren die Folge.

Auf „Hamilton“ trifft nicht nur ein immenser Erfolg und damit verbundenes öffentliches Interesse zu, an dem man irgendwie teilhaben möchte. FOMO (die Angst, etwas zu verpassen) und so. Auch klingt diese Aufarbeitung und Präsentation von Geschichte und Biographie als musikalischer Polit-Thriller außerordentlich spannend und originell, von den unfassbar groovigen und ohrwurmverdächtigen Songs ganz zu schweigen. (Spotify sei Dank. Anspieltipps: äh, das komplette Ding, aber auch „My Shot“, „The Schyler Sisters“, „Satisfied“, „Wait for it“, „Non-Stop“ uvm.)

Schaut man sich die Besetzungsliste an, wird man feststellen, dass „Hamilton“ inzwischen schon bei der dritten Cast-Generation angelangt ist – nur am Broadway. Bei der Tour z.B. nach L.A., Puerto Rico oder London kamen noch weitere Veränderungen hinzu. (Ach übrigens, ursprünglich war eine deutschsprachige Version in Hamburg für den Herbst 2020 geplant. Doch das dürfte erst einmal aufgeschoben sein.) Das ist, wie erwähnt, für ein Bühnenstück absolut normal und den Erwartungen entsprechend. Doch als Filmmensch hat man irgendwie immerzu das Verlangen, ein Kunstwerk als vollendeten und unveränderlichen Gegenstand (wenn man nicht gerade George Lucas heißt) zu behandeln. Das Werk ist das Werk, alternativlos, so dass jeder Diskussionspartner dieselbe identische Grundlage besitzt. Das ist bei Musicals und anderen Bühnenstücken schlicht nicht möglich. Das kann der neugierige Filmfan wissen, kann man verinnerlichen, und doch pocht noch immer ein leises Verlangen nach dem „Original“, nach der Erst- und Stammbesetzung um Miranda, Leslie Odom Jr., Daveed Diggs, Phillipa Soo und Konsorten. Die einzige Möglichkeit ist erneut eine Filmversion wie eben bei „Phantom“. Immerhin: eine solche Version ist in Arbeit. Ein spezieller Mitschnitt aus drei Auftritten von 2016 soll eine „Hamilton“ Filmversion ergeben. Den Vertrieb dafür hat sich – natürlich – Disney gesichert und dafür geschlagene 75 Millionen Dollar auf den Tisch gelegt. Start? Angeblich 2021, aber aktuell ist bekanntlich nichts sicher.

Die Goldene Ära des US-Musicals

Selbst wenn man mal die Spardose plündert, gutes Ticket-Timing besitzt und eine „Hamilton“ Reise nach New York bucht, um die aktuelle Besetzung live in Haut und Haar zu begutachten, sind schon wieder drei neue Broadway Trends entstanden. Nicht wenige Stimmen beschreiben die letzten Jahre als goldenes Musical Zeitalter, mit mehreren hochqualitativen, originellen und erfolgreichen Stücken. Da wäre zum Beispiel das „Beetlejuice“ Musical. Ja, dieses existiert, basiert auf Tim Burtons Film und hat bemerkenswerte Reaktionen hervorgerufen, gleichermaßen für die Story, die visuelle Umsetzung und die Musik. Doch Corona lässt „Beetlejuice“ nicht nur pausieren, sondern hat das Ende des Musicals am Broadway besiegelt. Das war’s. Aussichten auf eine offiziell abgefilmte Version? Bisher sieht es noch dunkel aus. Anderes Beispiel: „Hadestown“, eine Adaption aus der griechischen Mythologie rund um die Geschichte von Orpheus und Eurydice. Nach Jahren Off-Broadway, im Workshop und als Konzeptalbum hatte „Hadestown“ 2019 den großen Durchbruch und rauschenden Erfolg. Nicht nur spricht diese Geschichte meinen Mythologie-Jieper an, auch unterstreicht die Besetzung (u.a. „Penny Dreadful“ Dorian Gray Reeve Carney) die gefühlte Nähe, Verwandtschaft und Tauschbeziehung zwischen Film und Bühnenmusical. Das gilt logischerweise erst recht für „Beetlejuice“.

So langsam dämmert es also dem weit entfernt lebenden Kulturneugierigen, dass manche Dinge einfach nicht zu überwinden sind, ohne sein komplettes Leben auf den Kopf zu stellen. Und das ist selbst das beste Musical der Welt nicht wert. Vielleicht reicht es irgendwann mal für einen Broadway Besuch. Mit etwas Glück und Geduld sitzt vielleicht noch ein Besuch im Londoner West End dran, für welches Stück auch immer. Bis dahin werden in der Musical- und Bühnenwelt ein paar Dutzend Trends und Hypes gesungen und ausgetanzt worden sein. Man kann nicht alles haben, nicht alles gucken, nicht alles konsumieren. Unsere heutige Technologie- und Medienwelt erlaubt uns doch, diesen vermeintlich unerreichbaren Kunstwerken und Ereignissen erstaunlich nahe zu kommen. Sicherlich, erst dadurch entsteht das Verlangen – die Gier – nach mehr, nach dem echten und unverfälschten Ding. Diese digitale Blicke über die kulturellen Mauern hinweg können aber ausreichend sein. Wir haben YouTube, wir haben Spotify, wir haben Twitter und Facebook. Ersatzbefriedigungen. Man wird die meisten dieser Events nie wirklich sehen, nie richtig aufnehmen können. Doch erst die Ermangelung eines Objekts oder einer Seh-Befriedigung kann diese einzigartige Faszination und Erwartungshaltung kreieren. Große Kunst und gefeierte Kultur; so nah und doch so fern. Und vielleicht erfüllt und ergießt sich diese Sehnsucht in X Jahren in einem online Live Event. So gehörte der am meisten gelikte Kommentar am Ende von „Phantom of the Opera“ einem User, der sich als jungen Mann aus einem philippinischen Dorf beschrieb, der niemals die Gelegenheit gehabt hätte, dieses Werk zu sehen, und der nun in überwältigender Freude die Filmversion verfolgen durfte, als fielen heute Geburtstag und Weihnachten auf denselben Tag. Besser kann es für die meisten Menschen im Umgang mit diesen US-Musicals nicht laufen – im Guten und im Schlechten.

Autor: Christian Westhus

Ein echter Ostwestfale. Gebürtig aus einer kleinen Doppelstadt, die niemand kennt, studierte Literatur in einer Stadt, die es angeblich nicht gibt (Bielefeld). Arbeitet seit 2006 für BereitsGesehen, schreibt Kritiken und Kolumnen, gehört zum Podcast Team und ist einmal im Monat beim KultKino in Lippstadt zu sehen.

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