YouTube Schätze, die es zu entdecken gilt

15. April 2020, Christian Westhus

#ZuHauseBleiben:
… und YouTube Schätze entdecken

YouTube ist nicht einfach wie ein TV-Sender, nicht einmal wie ein Streaming-Anbieter, dessen Angebot man grob in sehenswert oder nicht sehenswert einordnen kann. YouTube repräsentiert fast (!) alles, was das gegenwärtige Leben auf diesem Planeten bereitstellt und bereithält. Also gibt es die höchsten Höhen, die tiefsten (legalen) Tiefen und alles dazwischen. Auch gibt es höchstklassige Videos, um besagte Tiefen auszuloten und zu erforschen. YouTuber gibt es viele, gibt es in allen Formen, Farben und Himmelsrichtungen. Versuchen wir heute mal, ein wenig Licht ins YT-Dunkel zu bringen und ein paar sehenswerte Videos und Kanäle vorzustellen.

Egal ob Lifestyle, Humor, Wissen, Videospiele oder Filme – ein paar eingeschworene Favoriten hat vermutlich jeder. Auch gibt es vermutlich so etwas wie eine A Klasse im – für uns hier größtenteils relevanten – deutsch- und englischsprachigen Raum. Überspringen wir also mal die erste Garde derer, deren Follower weit in die Millionen gehen oder auch diejenigen, die rein gefühlsmäßig so bekannt sind, dass sie sich eigentlich selbst nicht erklären können, warum sie die Million noch nicht erreicht haben. Hier also vier ausgewählte Videos und/oder Kanäle, um die YT-Welt zu entdecken.

Unraveled: I used The Sims to perfect my apartment (Polygon)
Zugegeben, Polygon ist beileibe kein kleiner Kanal. Mit einem Fokus auf Videospiele grast man nicht nur eine der beliebtesten Ecken YouTubes ab, auch ist Polygon Heimat der legendären MONSTER FACTORY der McElroy Brüder Justin und Griffin, die den Character Editor verschiedener Spiele bis zum Exitus an den Rand des Mach- und Darstellbaren bringen, um ihre kurios-liebenswerten Geschöpfe dann durch die jeweilige digitale Welt zu schicken. Zudem sind die Leute bei Polygon eine sympathische Bande, wie nicht zuletzt auch die Brettspiel Videos der OVERBOARD Reihe beweisen. Einer aus dieser Bande ist Brian David Gilbert, der in seinen UNRAVELED Videos Absurditäten der Gaming Welt erforscht bzw. vermeintlich Banales der Gaming Welt zu Absurditäten macht. So sortiert er schon mal „Mortal Kombat“ Figuren nach ihren Kuschelfähigkeiten, fertigt ein Ranking aller „Mega Man“ Roboter an, liest sämtliche Bücher innerhalb von „Skyrim“ oder geht der Natur von Kirby auf die Spur, um in existentiellen Ängsten zu enden.

Das bisherige Highlight der UNRAVELED Reihe ist jedoch vermutlich dieses Video über „Die Sims“ und BDGs Versuch, sein reales Apartment über die Spielmechanik zu optimieren. In seiner fast schon Python-esken Art der ironisch-absurden Ernsthaftigkeit lässt Gilbert sein Sim-Ich in einer Rekonstruktion seines Apartments frei herumlaufen und schließlich sterben. Denn sein Sim ist nicht in der Lage, sich dauerhaft selbst zu versorgen, was teilweise eben an der nicht (über-)lebenswerten Art des Apartments liegt, teilweise aber auch an einem Mod zur Zeitbeschleunigung. Und während wir gerade noch über die Tragweite eines erschütternden Monologs zum digital kaum beachteten x-ten Tod des Sims nachdenken, kommt Gilbert zum eigentlichen Ziel seines Videos, welches diese gute Viertelstunde erst zu einem echten Wunderwerk abrundet und – ganz besonders angesichts der aktuellen Situation – plötzlich erstaunlich ernste Emotionen und Wehmut heraufbeschwört. Aus einem vermeintlich albernen Konzept nicht nur gute Unterhaltung, sondern auch solche Reaktionen zu kreieren, ist ohne Frage eine gewaltige Leistung. Und man wird Bilder trauriger Clowns mit anderen Augen sehen.

CATS! And the weird mind of TS Eliot (Maggie Mae Fish)
Tom Hoopers „Cats“ (2019) gilt als eine der größten filmischen Katastrophen der letzten Jahre. Ein neues „Battlefield Earth“. Die Filmadaption von Andrew Lloyd Webbers super-erfolgreichem Bühnenmusical war ein finanzielles Desaster, erntete miserable Kritiken und noch viel mehr Hohn und Spott. Die seltsamen Uncanny Valley Katzenfell-Mensch Hybridwesen waren nur der Anfang des Unheils. Es ist ein Film, der eigentlich eher abschreckt als neugierig macht, der höchstens als sprichwörtlicher Unfall einen Reiz hat, an welchem man nicht vorbeisehen kann. „Cats“ sorgte schon beim Trailer für zahlreiche Reaktionen, auch bei YouTube. Beim Film ist es nun genauso, spätestens seit er auf Scheibe erschien und damit für Video Essays bearbeitet werden konnte. Die bekannte und wunderbare Lindsay Ellis erreichte mit ihrem „Cats“ Video bereits mehr als eine Millionen Menschen. Die Variante von Kollegin Maggie Mae Fish (Ellis taucht als Sprecherin im Video auf) ist nicht ganz so erfolgreich und dennoch mindestens genauso sehenswert.

Auch Maggie Mae Fish bewegt sich im Bereich überwiegend filmspezifischer Popkultur Analysen, nur etwas verrückter. Und kinky-er. Zuletzt veröffentlichte sie Videos, in denen sie Filme der amerikanischen Christlich Evangelikalen durchleuchtet und feinstens seziert. Während Lindsay Ellis‘ „Cats“ Video stärker Film und Bühnenmusical vergleicht, geht MMF zurück zu Dichter TS Eliot, dessen Gedichte die Vorlage für das Musical bilden. Und wer durch besagte Unfall-Neugierde angelockt wird, bleibt womöglich, um dabei zuzusehen (und sich bilden zu lassen), wie unsere Moderatorin den noch immer hochangesehenen Poeten nach allen Regeln der Kunst auseinandernimmt („dragging“, im Internetsprech), seine verabscheuungswürdigen politischen und gesellschaftlichen Ansichten und Ideologien zerpflückt und aufzeigt, wie sich Ansätze dieser selbst in einer konfus konzipierten Gaga-Adaption wie „Cats“ 2019 wiederfinden. Statt also einen vermutlich misslungenen Film zu gucken, kann man alternativ dieses Video Essay (oder erwähnte zwei) gucken. „Reincarnate me, daddy. Meow.“

Mary Poppins, Eliza Doolittle, and Julie Andrews’ Oscar (Be Kind Rewind)
Alle diese ausgewählten Videos dienen nicht zuletzt auch dazu, den dazugehörigen Kanal als Ganzes vorzustellen. Das ist besonders deutlich in diesem Fall gemeint. BE KIND REWIND fristet mit knapp 130.000 Abonnenten sicherlich kein Schattendasein – und einige Videos, wie auch das ausgewählte, haben mehr als eine halbe Millionen Klicks – und doch verdient der Kanal eine größere Aufmerksamkeit. Insbesondere für Filmfans. Unsere Moderatorin (Sie heißt offenbar Izzy, doch ihr privater Name steht hier nicht im Vordergrund. Das ist vollkommen okay.) versetzt uns zurück ins alte Hollywood und erforscht Filmgeschichte anhand der Oscars. Spezifischer: BKR nimmt sich der Vergabe der Besten Hauptdarstellerin (und gelegentlich Nebendarstellerin) an, um Filmhistorie lebendig werden zu lassen. In wahrlich exzellent recherchierten, gekonnt geschriebenen und wunderbar montierten und bebilderten zehn bis zwanzig Minuten Happen geht es ums Eingemachte im Filmgeschäft, um die Nuancen im Buhlen um die Oscars und um gesellschaftliche Standards und Erwartungen der jeweiligen Zeit.

BKR hat Videos über Elizabeth Taylor, Liza Minelli, Grace Kelly und Meryl Streep, beeindruckt aber auch z.B. mit einem exzellenten Einblick in das damalige Prinzip „Harvey Weinstein und die Oscars“ oder bietet erstklassigen Service, wenn die verschiedenen Versionen von jeweils „A Star is Born“ oder „Little Women“ miteinander verglichen werden. In diesen Videos lernen wir nicht nur Schauspieler und Filme kennen, sondern auch die Mechanismen des Filmgeschäfts und Funktionsweise der Oscar Academy, Einflüsse, wie der Wandel vom Stumm- zum Tonfilm, der Hayes Code, das alte Studio System und vieles mehr. In ausgewähltem Video geht es um Julie Andrews, die 1965 den Oscar für „Mary Poppins“ erhielt und dabei u.a. über Audrey Hepburn in „My Fair Lady“ triumphierte. Der Clou? „My Fair Lady“ begann als Bühnenmusical und Andrews machte die Rolle der Eliza Doolittle berühmt und erfolgreich, wurde aber von Filmproduzent Jack Warner übergangen, da sie noch kein etablierter Star mit Zugkraft war. Es ist die Ironie dieses Falls, dass parallel Walt Disney mit der Produktion von „Mary Poppins“ begann. Für jeden, der in Sachen Film gerne auch mal mehr als fünf Jahre nach hinten blickt und ganz nebenbei etwas über sich verschiebende und veränderte gesellschaftliche (wenn auch überwiegend amerikanische) Ansichten und Standards lernen möchte, sollte sich einmal komplett durch diesen Kanal pflügen. Ein schwaches Video ist mir hier noch nicht untergekommen. (Und ich habe sie alle gesehen, muss ich zugeben.)

Misery was/Kummer war (exurb1a)
Vor nicht allzu langer Zeit war EXURB1A noch ein mittelgroßer Geheimtipp. Inzwischen hat der Engländer mehr als 1,5 Millionen Abonnenten. Das ist viel, doch wie bekannt sind diese Videos wirklich? Und ist das relevant, wenn man einfach eine dieser wundervollen Kuriositäten mit der Leserschaft teilen möchte? Was genau ist exurb1a und was genau sollen seine Videos bezwecken? Exurb1a ist u.a. auch Science-Fiction Autor (bisher augenscheinlich noch im kleinen überwiegend Indie und Self Publishing Bereich) – und das merkt man. Seine Videos sind Geschichten, dabei ein bisschen CGP GREY, reichlich supertrockener britischer (Sci-Fi) Humor, wissenschaftlich fundierte Basics und ein ordentlicher Schwall existentialistischer Philosophie, mit Running Gags über Norwegen, Bulgarien und British Rail. All diese Einflüsse präsentiert er überwiegend mit perfekt ausgewählter Stock Footage und reichlich klassischer Musik. So viel episch-emotionale klassische Musik! Dabei sind in früherer Zeit auch mal Sketche und humorvolle Kurzgeschichten herausgekommen, z.B. FIRST CONTACT, über den inter-äh-planetaren ersten Kontakt und wie dieser ungeahnte Wendungen nimmt. Oder „27“, über eine KI in der Testphase, die als Vorlauf zum GENOCIDE BINGO genannten Prinzip wird. Oder erste konkretere Videos, wie die exurb1a Variante des „Fermi Paradoxons“.

Im Laufe der letzten drei/vier Jahre wurden die Videos größer, komplexer, etwas ernster, ohne den britischen „tongue-in-cheek“ Humor jemals zu verlieren. Die Sci-Fi Aspekte wurden verstärkt menschlich-philosophischen Phänomenen untergeordnet. Der Ausblick auf eine mögliche Zukunft, sei es durch G.R.AI.N., Zeitreisen oder diverse Versionen der Maschinenrevolution und der Digitalisierung des Menschen, ist immerzu eine Mischung aus nackter existentialistischer Panik und euphorischem Hoffnungspotential. Wir sind eigentlich eine winzige dumme kleine Zufallsspezies. Aber wir sind auch zu unermesslichen Wunderdingen im Stande! Zwischen diesen Extremen befinden sich exurb1as Geschichten und Essays, wie auch MISERY WAS/KUMMER WAR. Ein Ausblick auf eine Fortschrittszukunft, wenn wir Probleme und Hindernisse der menschlichen Existenz zu Dingen der Vergangenheit machen. Diese Videos sind zuweilen ein Overkill aus Ideen, Emotionen und Impressionen. Und das macht sie so sehenswert. Dazu ne Packung „fucking Toffifee.“

Was Spannendes entdeckt? Was Neues gelernt? Was sind deine YouTube Entdeckungen und Empfehlungen? Teile dich mit.

Autor: Christian Westhus

Ein echter Ostwestfale. Gebürtig aus einer kleinen Doppelstadt, die niemand kennt, studierte Literatur in einer Stadt, die es angeblich nicht gibt (Bielefeld). Arbeitet seit 2006 für BereitsGesehen, schreibt Kritiken und Kolumnen, gehört zum Podcast Team und ist einmal im Monat beim KultKino in Lippstadt zu sehen.

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