Rocketman und musikalische Vorprägung

8. Mai 2020, Christian Westhus

Da sitzt man an einem Sonntagabend nichtsahnend vor dem Fernseher und schaut ROCKETMAN, das Musical Biopic über Elton John, bis man plötzlich über musikalische Assoziationen und Nostalgie-Synapsen im eigenen Gehirn stolpert. Was war passiert? Reginald alias Elton John und Bernie Taupin stehen noch am Anfang ihrer musikalischen Beziehung, als Taupin einen neuen Songtext überreicht, für den Elton die passenden Töne finden und den er singen soll. Also begibt sich der junge Mann ans heimische Piano und stimmt diesen Song an, der gleichermaßen ein großes Liebeslied, aber auch ein Zeichen der intensiven Freundschaft zwischen Elton und Bernie sein könnte. Schauspieler Taron Egerton singt in der Rolle als Elton John „Your Song“ und ich persönlich konnte nicht anders, als an Ewan McGregor und Nicole Kidman zu denken.

© Paramount

MOULIN ROUGE! war 2001 ein bombastisch-prunkvolles Liebesfilmmusical von Regisseur Baz Luhrman. Der Clou? Statt auf eine Broadwayvorlage oder auf eigens komponierte Lieder zurückzugreifen, griff man bei dieser im Paris zur Jahrhundertwende angesiedelten Geschichte auf bestehende Pop Songs zurück, die teils wild kombiniert und neu durchgemischt wurden. Da trifft „Diamonds are a girl’s best friend“ auf Nirvanas „Smells like Teen Spirit“, da wird „Roxanne“ von The Police zum echten Tango umfunktioniert, und im berühmten „Elephant Love Medley“ verschmelzen gut zwei Dutzend Liebeslieder zu einem teils inbrünstig gesungenen Appell an die wahre Liebe zwischen den Protagonisten. Und eben „Your Song“. Im Vergleich zu den meisten Liedern im Film bleibt die MOULIN ROUGE Version dem Elton John Original recht treu, trägt nur – ganz Baz Luhrman entsprechend – ein wenig dicker auf.

Für mich und für viele andere war dies die prägende Version des Liedes. Man kann wissen, dass es ein Cover oder Remix ist, dass das Original Elton John gehört, aber das hält unser Gehirn nicht davon ab, der Erstprägung emotionalen Vorrang einzuräumen. Wir haben alle JOHN CARTER OF MARS gesehen und wissen vermutlich, dass die Vorlagenromane maßgebliche Inspirationen für George Lucas und STAR WARS waren. Doch die JOHN CARTER Filmversion kam in einer Post-Star-Wars Welt heraus und wirkt nun irgendwie zu vertraut und wenig originell, wirkt abgekupfert, an der Grenze zur Langeweile. So ähnlich verhielt es sich auch mit „Your Song“. Elton John singt das Lied nicht so wie in MOULIN ROUGE und Taron Egerton hat nicht dieses Funkeln in den Augen, wie es Ewan McGregor hatte. Wenig später, nach einem ersten Konzerterfolg in ROCKETMAN, fühlt sich Elton auf einer Party einsam und wird musikalisch von seinem eigenen „Tiny Dancer“ begleitet. Und mein Gehirn? Es erinnerte mich an eine Busfahrt mit der Band Stillwater, wie Bandleader Dr. Manhattan von seinen Kollegen und Groupies (Pardon, Band Aids) durch eben dieses Elton John Lied aufgemuntert wurde. Mein Gehirn dachte an ALMOST FAMOUS.

Das „Hey, das kenne ich doch“ Phänomen

© Arthaus

Man kann diese Vorprägungen nicht vermeiden, kann nicht wirklich verhindern, wohin man durch die eigenen mentalen Assoziationen geführt wird. Nicht zuletzt das ist gemeint, wenn man davon spricht, dass keine zwei Personen einen Film (oder irgendein Medium/Kunstwerk) identisch aufnehmen können. Musik ist in Sachen Prägung ein besonders häufiger Begleiter, denn Musik ist ungeheuer intensiv und effektiv darin, unsere Gefühle zu ergreifen und sich darin einzunisten, um bei der unmöglichsten Situation hervor zu preschen. In Verbindung mit markanten Filmszenen kann das zu erstaunlichen Hindernissen und Verwechslungen führen.

Kann man zum Beispiel „The End“ der Doors hören, ohne an den real-explodierenden (tatsächlich-philippinischen) Dschungel aus APOCALYPSE NOW zu denken? Kann man „Unchained Melody“ hören, ohne vor dem inneren Auge zu sehen, wie Demi Moore und Patrick Swayze in GHOST sinnlich-romantische (phallische) Fingerübungen beim Töpfern durchführen? Sogar Nationalhymnen können so stark umgeprägt werden, dass sie einen ganz eigenen Assoziationsrahmen erhalten. Oder wer denkt nicht an CASABLANCA, wenn die „Marseillaise“ ertönt? Vielleicht Franzosen, zugegeben, aber die Prägung ist unweigerlich da.

via GIPHY

Es erscheint unwahrscheinlich, dass wir jemals wieder „Stuck in the Middle with you“ oder „It’s hip to be square“ in einem Film hören, ohne von den Filmverantwortlichen gezielt in Richtung RESERVOIR DOGS oder AMERICAN PSYCHO gesteuert zu werden. Oder wird „Johnny B Goode“ je wieder losgelöst von ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT aufzunehmen sein? Schwer vorstellbar. Es sei denn, man ist Kubrick, der es fertigbrachte, „Singing in the Rain“ in einem quasi-gewalttätigen Akt zu rekontextualisieren (neudeutsch: pop-cultural appropriation). Das ist nicht unbedingt ideal für Gene Kelly und den Musical Klassiker (Deutsch: DU SOLLST MEIN GLÜCKSSTERN SEIN), ist als Beispiel, zu was die Kombination aus Film und Popmusik fähig ist, jedoch sehr anschaulich. Überhaupt Kubrick, der in fast jedem seiner (zu wenigen) Filme mindestens eine verblüffende musikalische Wundertat vollbrachte. Das deutsche Lied für französische Soldaten am Ende von WEGE ZUM RUHM, „We’ll meet again“ als finster-prophetisches Versprechen in DR. STRANGELOVE, Händels „Sarabande“ in BARRY LYNDON, György Ligetis gewalttätige Piano-Hämmer in EYES WIDE SHUT und natürlich Richard Strauss und „Also Sprach Zarathustra“ in 2001: ODYSSEE IM WELTRAUM. Werbespots, insbesondere Bierwerbung verwendet „Zarathustra“ noch heute gerne mal und ist sich der 2001 Verbindung nur zu bewusst.

Und überhaupt A CLOCKWORK ORANGE, der die Verbindung mit Beethovens 9. Symphonie natürlich schon inhaltlich durchspielte und Teile des Stücks mehrfach anspielte. Die berühmte Neunte ist zu groß, gewaltig und auch außerhalb dieses Films zu präsent, um ausschließlich mit Alex und seinen Taten in Verbindung gebracht zu werden. Passagen wie der zweite Satz und der „Freude schöner Götterfunken“ Höhepunkt sind derart omnipräsent in Film, TV und Popkultur, dass die erste Assoziation bei den meisten Menschen unterschiedlich sein dürfte. Doch Kubrick wäre nicht Kubrick, wenn er nicht Elemente aus der Neunten vermutlich komplett sein Eigen gemacht hätte. Oder geht es nur mir so, dass „Alla Marcia“ aus dem 4. Satz quasi ausschließlich mit UHRWERK ORANGE in Verbindung gebracht wird? Außerhalb von Komplettaufnahmen hört man diese Stelle quasi nie. Gefühlt.

Das Biopic Problem

© 20th Century Fox

Doch all diese Vor- und Neuprägungen erhalten erst dann eine besondere Würze, wenn wir uns in einem Biopic befinden, wenn wir die Entstehung des „Originals“ beobachten, ehe besagte Prägungen dazwischen funken. So war es eben der Fall bei ROCKETMAN. Es ist, als würde man BOHEMIAN RHAPSODY gucken und dabei immerzu WAYNE’S WORLD im Kopf haben. Oder noch besser, als würde man AMADEUS gucken und dabei an WATCHMEN denken. Letzteres ist natürlich etwas weit hergeholt, was wahlweise an Mozart, an der durchwachsenen Qualität von WATCHMEN oder der herausragenden Qualität von AMADEUS liegt. Sowohl der Elton John Film als auch der Queen Film gaben uns Momente, in denen wir Hinter die Kulissen der Entstehung des berühmten Liedes blicken. Quasi ein Song Making Of. Und so erfreulich es zu sehen ist, dass sich ein Musiker Biopic tatsächlich mal (etwas) konkreter mit der tatsächlichen musikalischen Arbeit befasst, statt direkt das fertige Lied zu präsentieren und die Tour-Montage anzugehen, können sich beide Filme etwas von AMADEUS abschauen, wie Mozart und Salieri dort „gemeinsam“ entscheidende Stellen des Requiems entwerfen und niederschreiben.

© Warner Bros., Paramount Home Entertainment

Dennoch: Die Verwendung der „Lacrimosa“ Passage aus Mozarts Requiem in Zack Snyders Filmadaption war eine dieser stilistischen „ganz oder gar nicht“ Entscheidungen des Regisseurs. Nicht subtil, wirklich nicht, aber beim ausgewählten Publikum sicherlich so effektiv wie „99 Luftballons“ oder das legendär unfreiwillig-komische „Hallelujah“ als Begleitmusik zur Sexszene zwischen Dan und Laurie. „Lacrimosa“, als musikalische Verurteilung von Veidts Plan, passend zu Nite Owls tadelndem Gesichtsausdruck, hinterließ fraglos Eindruck. Hier nun die Cinema Studies Frage, wie man mit (musikalischer) Intertextualität innerhalb von Adaptionen und Fortsetzungen umgeht: Wenn Damon Lindelofs Serienfortsetzung des „Watchmen“ Comics eben diese Lacrimosa Passage wiederholt verwendet und einsetzt, sie insbesondere mit Adrian Veidt assoziiert, kann das Zufall sein? Die Serie ist eindeutig, ohne Zweifel und ausnahmslos als Fortsetzung zum Comic gedacht, keineswegs als Fortführung der Filmadaption, setzt jedoch eine in der Snyder-Version verwendete Musikpassage wiederholt ein. Wir müssen davon ausgehen, dass Lindelof und sein Team von dieser Verbindung wussten, also müssen wir sie als beabsichtigt und zielgerichtet intendiert betrachten. Oder?

Weiter gefragt: kann sich ein Musik Biopic davon befreien, dass die großen Lieder, die aus der porträtierten Person einen Weltstar gemacht haben, im Laufe der Jahre und Jahrzehnte popkulturell aufgeladen wurden? Sollte ein solches Biopic dem entgegen steuern? Ist es wirklich ein Problem, während ROCKETMAN an Ewan McGregor und MOULIN ROUGE zu denken? Man darf und kann beides mögen bzw. alle drei Versionen, denn Taron Egerton ist bei allem Talent und aller Spielfreude eben nicht Elton John. Und Rami Malek war beileibe kein Freddie Mercury. Diese Biopic Filme müssen schon dem angeblich überlebensgroßen Original gerecht werden, da ist die assoziative Wandelbarkeit der zu behandelnden Musik nur noch ein weiteres Hindernis. Vielleicht ist all dies nur Erinnerung und Mahnung daran, dass Musik Biopics nicht geholfen ist, wenn sie das Äquivalent eines filmischen Wiki-Artikels mit integrierten YouTube Links abliefern. Leben und Werk dieser berühmten Musiker ist derart aufgeladen und von Querverweisen durchzogen, dass ihnen eine standardisierte „Auf A folgt B und am Ende Z“ Geschichte nicht gerecht wird. Wenn wir während eines biographischen Musikfilms an andere Interpretationen und Verwendungen dieser Musik denken müssen und auch noch lieber dort verweilen, scheint dem Biopic das nötige Etwas zu fehlen. Große Persönlichkeiten brauchen große und besondere Filme. Und große Musik braucht ein passendes Umfeld, um das dämliche Assoziations- und Nostalgie-Zentrum unseres Gehirn zumindest ein Stück weit zu besänftigen.

Autor: Christian Westhus

Ein echter Ostwestfale. Gebürtig aus einer kleinen Doppelstadt, die niemand kennt, studierte Literatur in einer Stadt, die es angeblich nicht gibt (Bielefeld). Arbeitet seit 2006 für BereitsGesehen, schreibt Kritiken und Kolumnen, gehört zum Podcast Team und ist einmal im Monat beim KultKino in Lippstadt zu sehen.

Um an dieser Diskussion teilzunehmen, registriere dich bitte im Forum:
Zur Registrierung