Kinostart Spotlight: 1917 und der One Take Film

15. Januar 2020, Christian Westhus

Jede neue Kinowoche bringt zahlreiche neue Filme in die Multiplexe und Programmkinos des Landes. Manchmal ist die Auswahl derart groß und unübersichtlich, dass man den Überblick verliert. Beim „Kinostart Spotlight“ werfen wir einen Blick auf einen ausgewählten Neustart der anstehenden Kinowoche und auf eine Eigenart dieses Films. Die Filmographie eines Regisseurs, die Eigenheiten eines Genres, die Buch- oder Comicvorlage. Heute kümmern wir uns um das Kriegsdrama „1917“ und die Tradition des One Shot Films.

Ab/Seit 16. Januar 2020 ist Sam Mendes‘ neuer Film „1917“ in den deutschen Kinos, wenige Tage nachdem er für satte 10 Oscars nominiert wurde. Inspiriert durch die Erfahrungen von Mendes‘ eigenem Großvaters im Ersten Weltkrieg, erzählt „1917“ die Geschichte zweier junger britischer Soldaten, die einen brisanten Sonderauftrag erhalten, bei dem es ums Überleben von rund 1600 Kameraden geht. Der Clou an der Sache, abgesehen vom ersten Mendes Film nach seinen zwei Bond Ausflügen, ist die Inszenierungsart: „1917“ ist ein One Shot oder auch One Take Film, also ein Film, der sich komplett in Echtzeit abspielt, ohne (sichtbare) Schnitte, in einem Rutsch gedreht.
Natürlich wurde dieser aufwändige Film mit zahlreichen Statisten und komplexen On-Set Effekten nicht wirklich komplett in einem Rutsch gedreht. Ähnlich wie in Alfred Hitchcocks „Cocktail für eine Leiche“ gibt es in „1917“ zahlreiche unsichtbare Schnitte. Die Kamera fährt an einem starren Gebäude oder einem neutralen Hintergrund vorbei, die Sequenz stoppt und die nächste Sequenz startet an eben dieser Haltestelle. Was bei Hitchcock nach heutigen Maßstäben doch ein wenig unsauber aussieht, wenn wir für eine geschlagene Sekunde in den Anzugrücken von Jimmy Stewart eintauchen, kann inzwischen durch digitale Nachbearbeitung derart haargenau und flüssig kaschiert werden, dass man in der Regel schon danach suchen muss, um die Schnittstellen zu finden.

So ein One Shot Unterfangen ist nicht nur eine große technische Herausforderung, es verändert auch die Art und Weise, wie ein Film konzipiert und geschrieben wird. In obigem „Behind the Scenes“ Featurette beschreiben Mendes und Kameramann Roger Deakins die logischen und doch schwer greifbaren Hindernisse. Ein künstlerisches Sprichwort erklärt, ein Film würde immer (mindestens) dreimal geschrieben: als Script, bei den Dreharbeiten und im Schnitt. Bei einem One Shot Film in Echtzeit, bei dem die Übergangspunkt für die unsichtbaren Schnitte vorgegeben sind, kann man nicht mehr tricksen im Schnitt, kann nicht mehr entscheiden, eine Szene zu kürzen oder gänzlich zu entfernen und zu ersetzen. Der Film muss komplett durchgeplant sein, sobald die Kameras rollen. Und wenn sie rollen, muss alles zusammenpassen, von den Landschaften, zum Wetter, zum Licht und zum Aussehen der Darsteller.

Ein Film wie „Birdman“, der sich zwar ebenfalls wie ein einziger Take ohne Schnitt anfühlt, aber ganz gezielt Grenzen zwischen Zeit, Raum, Wahrheit und Traum überschreitet, hatte mehr Möglichkeiten sich zu entfalten, konnte flexibler sein. Im Vergleich zu „1917“ ist es eben nicht ganz dasselbe, Michael Keaton durch die Luft sausen und ins Theater gleiten zu lassen, nur um dann nach einem Gang durch einen dunklen Flur zu einer anderen Tageszeit wieder herauszutreten. Doch auch „Birdman“ erforderte große Vorausplanung und die Einhaltung der Haltepunkte.

(C) 20th Century Fox

Einen echten One Take in Spielfilmlänge durchzuziehen, kann also nur etwas für Wahnsinnige sein oder kann eigentlich nur abgefilmtem Theater ohne komplexe Kameraarbeit entsprechen. Oder vielleicht nicht? Vor dem digitalen Zeitalter war das Filmmaterial das größte Hindernis. Hitchcock hätte „Cocktail für eine Leiche“ vermutlich nur zu gerne in einem echten One Take gedreht und dies auch geschafft, doch eine Rolle 35mm Film reichte nur für Aufnahmen von etwa zehn Minuten. (Bzw. ein durchschnittlicher Filmprojektor konnte nicht mehr als das pro Rolle bewerkstelligen.) Mit digitalen Kameras und Speichermedien wurde dies anders und führte 2002 zu Alexander Sokurows „Russian Ark“. Ein 96-minütiger Gang durch die Eremitage in Sankt Petersburg, durch über 30 prunkvoll ausgestattete Museumsräume, mit hunderten und am Ende gar tausenden Statisten in aufwändigen Kostümen, gefilmt mit einer stetig wandelnden Steadicam in einem einzigen echten Take ohne Schnitt. Vier Anläufe brauchte Kameramann Tilman Büttner, was beim entscheidenden Versuch eine ganz neue Sorge verursachte: wie lange halten die Kameraakkus?

„Russian Ark“ war ein immenses, hochkomplexes und lange Zeit einzigartiges Unterfangen. Die schiere Masse an Statisten, die insbesondere die finalen Momente dominieren, lassen selbst „1917“ ein kleinwenig alt aussehen. Es dauerte bis 2015, ehe sich der deutsche Regisseur Sebastian Schipper eine Kamera schnappte (sozusagen) und damit durchs nächtliche Berlin zog. „Victoria“ zeigt in rund zweieinhalb Stunden den Weg einer jungen Spanierin, die an vier nette, aber auch kriminelle Berliner Jungs gerät und mit diesen um die Häuser zieht. Auch „Victoria“ ist ein echter One Take, dabei weniger „gigantisch“ als „Russian Ark“, dafür viel näher an einer klassischen Filmdramaturgie mit komplexen Dialogen, Emotionen und Spielszenen, was eine ganz eigene Herausforderung darstellt. Wobei zumindest dieser Autor der Meinung ist, dass bei „Victoria“ manche Szenen durch die Präsentationsform ein kleinwenig in die Länge gezogen wurden und eher unterstreichen, warum ein Schnitt manchmal nützlich und notwendig ist.

(C) Universal Pictures

Vielleicht ist der One Take Film daher bis heute eine Ausnahme, die sich eher im Musikvideo Bereich etablieren konnte. Vielleicht verlassen sich die meisten Filmregisseur daher maximal auf einzelne Szenen in Echtzeit, ohne Schnitt. Eine gut gemacht und gut positionierte Plansequenz kann im entscheidenden Moment besonders intensiv herausragen. Rein gefühlsmäßig beginnt die Ära prägnanter One Takes bei der Einstiegssequenz von Orson Welles‘ „Im Zeichen des Bösen“, wenn wir einer Autobombe von der Platzierung bis zur Explosion nachgehen und damit die Suspense Regel der berühmten Hitchcock (der schon wieder) Anekdote von der Bombe unterm Tisch befolgen. Leute wie Martin Scorsese, Alfonso Cuarón und Paul Thomas Anderson sind berühmt und mancherorts auch berüchtigt für ausgewählte Sequenzen ohne Schnitt. Wir denken an „Goodfellas“, an „Children of Men“ oder an die eindeutige „Goodfellas“ Referenz in „Boogie Nights“. Oder man agiert wie Michael Haneke oder besser noch wie der Ungar Béla Tarr, die die Kamera gerne mal unbeirrt aufs Geschehen richten und in einem Versuch von Natürlichkeit auf einen Schnitt verzichten. Insbesondere Tarr schneidet seine Filme mit Bedacht, schneidet im Prinzip nur zwischen Szenen, aber fast gar nicht innerhalb einer Szene. So kommt es, dass Tarrs siebenstündiger (ja, sieben Stunden) Film „Satanstango“ lediglich rund 150 Schnitte enthält und damit weniger als „6 Underground“ innerhalb der ersten fünf Minuten.

Was aber soll so ein logistisch hochanspruchsvoller technischer Selbstzwang bezwecken? Manchmal haben wir es Wohl oder Übel mit Protzerei zu tun, doch so etwas ist immer auch eine Unterstellung und fast nie die einzige Motivation. Natürlich umgibt einen Film wie „Russian Ark“ auch das Gefühl einer „Challenge“, einer Herausforderung, diesen Rubikon Moment zu bewältigen und Filmgeschichte zu schreiben. Natürlich lässt sich mit einem One Take und den dazugehörigen Herausforderungen besonders gut werben, wie „Birdman“ und aktuell auch „1917“ bewiesen und beweisen. Manche sehen eine solche Präsentationsform als eine unverfälschte Annäherung an die Natur. Ein Realismusaspekt also. Doch der One Take, egal ob als Gesamtfilm oder als Plansequenz innerhalb eines Films, ist nicht zuletzt auch eine effektive Umsetzung eines der Kernelemente des Films: Zeit. Nicht ohne Grund beschrieb der legendäre Andrej Tarkowski, selbst ein Freund ausgedehnter Sequenzen, seine Filmphilosophie als „formen (bzw. bildhauen) in der Zeit“. Je nach Kontext kann jeder Schnitt ein Moment des Durchatmens sein, ein kleiner Moment der Sicherheit. Entsprechend erhöht der Verzicht auf Schnitte die Dringlichkeit und Intensität einer Szene, einer Sequenz oder eines Films. Zumindest theoretisch. Erleben wir eine Filmhandlung in Echtzeit, sind wir stärker im Hier und Jetzt der Handlung verankert. „Immersion“ lautet das moderne Schlagwort. Und gerade eine Geschichte wie die von „1917“, wenn es um Zeitdruck, Gefahrenpotential, emotionale Dringlichkeit und die tragische Konsequenz der kleinsten Fehler geht, kann von einer gelungenen One Take Umsetzung immens profitieren, was nur heißt, dass der Zuschauer davon profitieren kann.

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Autor: Christian Westhus

Ein echter Ostwestfale. Gebürtig aus einer kleinen Doppelstadt, die niemand kennt, studierte Literatur in einer Stadt, die es angeblich nicht gibt (Bielefeld). Arbeitet seit 2006 für BereitsGesehen, schreibt Kritiken und Kolumnen, gehört zum Podcast Team und ist einmal im Monat beim KultKino in Lippstadt zu sehen.

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