Kinostart Spotlight: „Emma“ und der (Un-)Sinn, Romane x-fach neu zu verfilmen

4. März 2020, Christian Westhus

Jede neue Kinowoche bringt zahlreiche neue Filme in die Multiplexe und Programmkinos des Landes. Manchmal ist die Auswahl derart groß und unübersichtlich, dass man den Überblick verliert. Beim „Kinostart Spotlight“ werfen wir einen Blick auf einen ausgewählten Neustart der anstehenden Kinowoche und auf eine Besonderheit dieses Films. Die Filmographie eines Regisseurs, die Eigenheiten eines Genres, die Buch- oder Comicvorlage. In „Emma“, mit „The VVitch“ Star Anya Taylor-Joy in der Hauptrolle, kommt die soundsovielte Verfilmung des Romans von Jane Austen in die Kinos. Soundsovielte, denn die genaue Zählung ist schwierig bei losen Adaptionen wie „Clueless“ (1995), modernisierten Serienadaptionen wie „Emma Approved“ (2013) und kulturellen Umwandlungen wie Indiens „Aisha“ (2010). Fakt ist: es gibt ziemlich viele „Emma“ Adaptionen. Warum eigentlich?

Jane Austen beziehungsweise ihre Romane gehören zu den besten Beispielen für dieses Phänomen, gewisse (zumeist literarische) Stoffe wieder und wieder zu verfilmen. „Emma“, „Stolz und Vorurteil“ und „Sinn und Sinnlichkeit“ gibt es jeweils gefühlt dutzendfach. Teilweise sogar mit Zombies. Die Werke der Brontë Schwestern, insbesondere Charlottes „Jane Eyre“ und Emilys „Sturmhöhe“, sind ähnlich beliebte Allzweckwaffen. Und dann ist da Charles Dickens, dessen „Weihnachtsgeschichte“ nun wirklich unzählige Male in den verschiedensten Formen (klassisch, modernisiert, animiert, mit Muppets) neu und neuer aufgegriffen wurde, dessen „Große Erwartungen“ und insbesondere „Oliver Twist“ aber kaum weniger oft ausgewählt wurden.

Es ist erst wenige Wochen her, da kam mit Greta Gerwigs „Little Women“ die vierte große amerikanische Verfilmung von Louisa May Alcotts beliebtem Roman in die Kinos. Es sind weitaus mehr, zählt man weniger bekannte Versionen wie die 2018er Modernisierung, TV-Serien oder japanische Anime TV-Serien, die den Roman zum Vorbild haben (genannt „Eine fröhliche Familie“). Und was wäre eine Ausführung über literarische Werke, die vielfach für TV und Kino adaptiert wurden, ohne eine Erwähnung von William Shakespeare?! Niemand Geringeres als Joel Coen (erstmalig ohne Bruder Ethan) dreht gerade eine groß produzierte Filmversion von Macbeth, mit Denzel Washington und Frances McDormand in den Hauptrollen. Die letzte wirklich große Macbeth Version, die mit Michael Fassbender, ist gerade einmal fünf Jahre alt. Die Filmindustrie ist einfallslos, nicht wahr? Eine andere Begründung kann es kaum geben, oder?

Drei Trends:

Ganz so simpel kann es aber natürlich nicht sein. Darf es natürlich nicht sein, denn es wäre noch langweiliger als einfallslose Filmemacher generell. Literarische Klassiker wie die Genannten haben sich bewiesen, geben einer Geschichte ein verlässliches Gerüst, auf dem man eine ähnliche oder neuartigere Geschichte bauen kann. Gleichzeitig tragen diese Werke den doppelten Inspirationsfaktor, denn Filmemacher haben in Kindheit und Jugend nicht nur den Text selbst gelesen und dabei lieben gelernt, sie sind auch mit den vorausgegangenen Adaptionen aufgewachsen und können in den interpretativen Nuancen zwischen den Versionen etwas Neues und Persönliches entdecken, was sie mit der Welt teilen wollen. Doch was für Nuancen können das sein? In der bloßen Aufzählung dieser Adaptionen stößt man bereits auf gewisse Trends.

Da wäre zunächst die Idee der Modernisierung. Alle bisher genannten Romane sind mehr als einhundert Jahre alt. Transportiert man die Versatzstücke aus Plot und Figuren in einen zeitgenössischen oder gar futuristischen Kontext, entstehen neue Perspektiven, neue Berührungspunkte und neue Interpretationsmöglichkeiten. Emma Woodhouse, die finanziell unabhängige Kupplerin, die zunächst nicht an ihrer eigenen Ehe-Zukunft interessiert ist, wirkt im England des 19. Jahrhunderts logischerweise ganz anders als im 21. Jahrhundert. Genauso haben sich soziale Stände und Klassen verändert, was nicht heißt, dass sie in unserer Zeit obsolet geworden sind. In diesem Bereich positionierte sich 1995 Amy Heckerlings „Clueless“, mit Alicia Silverstones Charakter Cher als neue Emma Woodhouse. Eine amerikanische High School der 1990er statt britischem Großbürgertum des 19. Jahrhunderts. So wird beispielsweise aus dem bereits verlobten und damit unerreichbaren Mr. Churchill der homosexuelle und damit für Cher unerreichbare Christian.

© Sony Pictures, Columbia

Der zweite Trend zeigt Neuverfilmungen als Anpassung an gesellschaftliche Modernisierungen. Das heißt, nicht der Text wird aktualisiert, sondern eine neue Generation blickt auf denselben Text zurück. Wir haben uns weiterentwickelt, unsere Welt, also schauen wir, was man durch diesen veränderten Blick auf einen älteren Text entdecken kann. Diese Herangehensweise stellen die vier großen „Little Women“ Versionen (1933, 1949, 1994, 2019) besonders gut heraus. Alle vier Filme behalten die Grundzüge des Romans (übrigens 1868 erschienen) und den historischen Kontext der Handlung konsequent bei, und dennoch kann man spannende Unterschiede ausmachen. So spiegeln sich in der 1933er Adaption Facetten der Great Depression, während sich die gesteigerte Nachkriegswirtschaftsposition der USA in der 1949er Fassung zeigt, die die March Mädchen z.B. von einem kleinen „Kaufrausch“ träumen lässt, ehe sie der Erziehung ihrer Mutter entsprechend ihr Geld spenden. 1994 gab man sich modern. Die 1960er waren vorüber, man befand sich in der Welt nach dem Women’s Liberation Movement und fokussierte so noch stärker Rolle und Position der Frau innerhalb der Geschichte von „Little Women“. Auf diesen Punkt setzte die neueste Variation noch einen drauf, verschob Chronologie der Handlung und das Sympathiegefälle zwischen den Figuren. Auch ist es im späten 20. oder im 21. Jahrhundert nun – hoffentlich – möglich, gewisse Details der Vorlage, die damals noch Sitte, Moral und Gesetz der Entstehungszeit untergeordnet waren, herauszustellen und so zu präsentieren, wie es die Autor gedacht hatten. Das trifft häufig auf Darstellungen von Homosexualität zu. Oder man macht es wie Greta Gerwig und adressiert die aufgezwungene Heiratspflicht einer gewissen Figur durch den Verlag über einen metafiktionalen Bruch. Denn die Adaption eines Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte alten Texts ist einerseits ein Blick zurück auf eine Zeit „wie es war“, gleichzeitig aber ist diese alte Zeit immer auch ein Spiegel der Gegenwart der Neuverfilmung.

© Universum Film

Der spannendste dieser Trends ist allerdings die Veränderung der Präsentationsform. Durch vorherige Adaptionen wurde die Möglichkeit geschaffen, sich noch stärker vom Text zu lösen. Natürlich sollte keine Verfilmung eine simple Wort-für-Wort Übertragung des Texts sein, doch eine Erstverfilmung trägt immer eine gewisse Anstandspflicht – für Autor und Fans –, die Vorlage nach Möglichkeit nicht komplett auf links zu drehen und zu verzerren. Es mag Geschichtenerzähler geben, die von Natur aus selbstbewusst und ambitioniert genug sind, um auch in einer Erstverfilmung komplett die eigene Vision durchzusetzen. Wäre Greta Gerwigs Film die Erstverfilmung von „Little Women“ gewesen, vielleicht hätte sie dennoch die Chronologie der Handlung aufgebrochen und neu arrangiert, wie sie es nun getan hat. Fälle wie Lynne Ramsays „Wir müssen über Kevin sprechen“, (Wohl oder Übel) Peter Jacksons „In ihrem Himmel“ und Gillian Flynns konsequenter Umgang mit ihrem eigenen Roman für „Gone Girl“ fallen ein. Doch bei älteren und mehrfach verfilmten Romanen gibt es, sozusagen, nicht länger die Respektspflicht, sondern die Erneuerungspflicht.

Hat die Filmgeschichte erst einmal ein bis zwei sorgfältige Versionen erhalten, können neue Geschichtenerzähler rabiater zu Werke gehen. Klar, „Pride and Prejudice & Zombies“ fing als Buch an, doch nicht nur waren die Intentionen von Autor Seth Grahame-Smith klar, das Argument bleibt auch bestehen: wir haben ausreichend Version von „Stolz und Vorurteil“ gesehen, kennen die Grundkonstellation von Elizabeth Bennett und Mr. Darcy in groben Zügen, können diese Figuren nun also relativ problemlos in einem neuen Kontext aus, äh, Zombies setzen. Hat der Autor seine Arbeit sorgfältig gemacht, entstehen durch Doppelungen und Veränderungen neue Ideen, neue Eindrücke oder zumindest humoristische Spitzen.

© Disney

Es verändert wenig und doch alles, eine Geschichte wie „Die Weihnachtsgeschichte“ oder „Die Schatzinsel“ nun runderneuert mit Muppets zu sehen. Ebenezer Scrooge ist eine derart bekannte und präsente kulturelle Ikone, dass es keinen Unterschied macht, wer ihn verkörpert, ob Michael Caine umringt von Muppets oder ein bizarr animierte Jim Carrey. Das heißt, einen Unterschied macht es natürlich sehr wohl, genau dort liegt der Reiz. Aber beide Versionen sind erlaubt. Man erkennt diesen Effekt auch bei Einzelfiguren wie Dracula, König Arthus oder Robin Hood. Nicht zuletzt in den Brüchen mit den Grundlagen des Texts, der Figuren, des Plots erkennt man die Neuerungen, erkennt man die Arbeit des neuen Autors/Regisseurs. Joel Coens kommender „Macbeth“ fällt direkt mit der Besetzung von Denzel Washington als Schotte Macbeth auf. Das mag zunächst überraschen, vielleicht sogar seltsam erscheinen, doch so erhält man die Einladung, die Geschichte aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. So wird es auf den Theaterbühnen der Welt seit Ewigkeiten gemacht. Doch ein Blick auf die aktuelle Besetzungsliste bei imdb lässt die Vermutung aufkommen, dass diese Version zudem ohne die eigentlich essentielle Figur Banquo auskommt. Und ohne Hexen? Es sind nur Vermutung, doch „Macbeth“ ist selbst für Shakespeare Verhältnisse eine überdurchschnittlich oft durchgekauter Stoff, dass man sich solche Veränderung mittlerweile problemlos erlauben kann. Vorausgesetzt, man weiß interessante Dinge damit anzufangen.

© Sony Pictures, Columbia

Geht das auch schneller?

Nun lautet die Frage: muss man erst 100+ Jahre und diverse Adaptionen abwarten, bis ein Text reif genug ist, dieser Prozedur unterzogen zu werden? Ja und nein. Wir erleben dieses Phänomen auch im kleineren Maßstab seit einer Weile im Blockbusterkino, genauer gesagt im Superheldenkino. Unsere neuen Standardtexte, die wir wieder und wieder erleben, entspringen häufig genug Comics. Doch es sind zwei Kernszenen, einzelne Momente, die das Kino seit zwanzig bis dreißig Jahren besonders häufig bemüht; kurioserweise beides Momente von Verlust, Tod und Mord:

Der Tod von Onkel Ben in den Spider-Man Filmen und die Ermordung der Waynes im Batman Kosmos. Wir kennen diese Momente mittlerweile so gut, dass sie nicht wenigen Leuten zum Halse heraushängen. Das liegt aber vielleicht auch daran, dass eben nicht besonders viel mit ihnen gemacht wurde. Klar, schon Tim Burtons „Batman“ (1989) war relativ „mutig“, den jungen Joker als Mörder der Waynes zu zeigen. Doch außer, eine gewisse schicksalhafte Verbindung zwischen Joker und Bruce/Batman zu ziehen, entspringt dieser Idee gar nicht mal so viel. Christopher Nolan brachte in seiner Version ein paar Meta-Anspielungen unter, betonte ansonsten in erster Linie die gefühlte Schuld von Bruce, der den Abzug aus der Oper und den damit verbundenen Umweg durch die dunklen Gassen ausgelöst hatte. Während Zack Snyder die Ästhetisierung gewisser Motive hervorhebt, z.B. Martha Kents Kette, sah sich sogar „Joker“ (2019) genötigt, den Tod von Bruce Waynes Eltern erneut darzustellen, obwohl der Film auch problemlos ohne diese Szene funktioniert hätte. Und Spidey? Letztendlich dreht es sich dort immer um die Kernidee, das Prinzip von „Großer Macht“ und „Großer Verantwortung“. Die neue Reihe versuchte die Bekanntheit dieser Formel für sich zu nutzen, begann nach Onkel Bens Tod, gab das berühmte Mantra in leicht veränderter Form an Tony Stark weiter und reichte einen erneuten tragischen Tod einer Ersatzvaterfigur durch Tonys Tod in „Endgame“ nach. Eine kosmetische Veränderung, in ihrer Funktion mehr oder weniger gleich.

Auf diesem Level wird aktuell im Superheldenkino adaptiert und referenziert. Die Möglichkeiten werden erkannt, doch noch gibt es auch reichlich Luft nach oben. Kommende Spider-Man Fortsetzungen, der nächste Batman und die sicherlich irgendwann auftretenden MCU X-Men bieten neue Möglichkeiten, durch Wiederholungen einen Mehrwert zu gestalten.

Von welcher Vorlage kennst du die meisten Versionen? Lohnt sich das alles wirklich? Und welcher Text hätte mal wieder eine Neuverfilmung verdient? Wenn du dich über diese und andere Fragen austauschen möchtest oder wenn du Interesse an weiteren Begleittexten zu aktuellen Kinofilmen hast, dann schau mal im Forum vorbei…

Autor: Christian Westhus

Ein echter Ostwestfale. Gebürtig aus einer kleinen Doppelstadt, die niemand kennt, studierte Literatur in einer Stadt, die es angeblich nicht gibt (Bielefeld). Arbeitet seit 2006 für BereitsGesehen, schreibt Kritiken und Kolumnen, gehört zum Podcast Team und ist einmal im Monat beim KultKino in Lippstadt zu sehen.

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